Ein Geschwisterstreit um die beste Pflege der Mutter ist der Hintergrund einer Verhandlung gegen eine 49-Jährige im Landesgericht für Strafsachen Wien.

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Wien – "Die erste und wichtigste Gemeinschaft für Menschen ist die Familie", findet sich im "Grundsatzprogramm der neuen Volkspartei". Der Prozess gegen Frau R. zeigt, dass diese Beziehungsstruktur mitunter auch für Unbill sorgt. Denn die unbescholtene 49-Jährige liegt offensichtlich schon länger im Clinch mit ihrem Bruder und dessen Frau. Es geht um das Schicksal der dementen Mutter, am 11. Oktober soll die Situation laut Staatsanwältin Julia Johnson strafbar geworden sein – R. soll mit dem Auto auf Schwägerin und Bruder zugefahren sein und ihren Bruder dabei verletzt haben.

Richter Stefan Romstorfer stellt gleich zu Beginn der Verhandlung klar, dass er den Prozessinhalt auf den angeklagten Sachverhalt beschränken möchte. Denn offenbar haben beide Seiten im Vorfeld umfangreiches Material an Gericht und Staatsanwaltschaft geschickt, das zwar wenig relevant war, aber den Akt merklich anschwellen ließ.

"Ringen um Gunst der Mutter"

Verteidiger Robert Pumberger kündigt gleich zu Beginn an, dass sich seine Mandantin nicht schuldig bekennen werde. "Dass es hier einen Familienzwist gibt, ist unstrittig", stellt er das Offensichtliche fest. "Es scheint ein Ringen um die Gunst der Mutter zu geben", am Tattag sei es "zur Eskalation gekommen".

Die Eskalation soll sich vor dem privaten Sanatorium in Wien-Ottakring, in dem die Mutter offenbar auf Betreiben des Bruders untergebracht war, ereignet haben. Laut Angeklagter wollten Bruder und Schwägerin die Eigentumswohnung der Mutter und hätten sie deshalb in die Betreuungseinrichtung abgeschoben. Sie wollte die Frau dagegen an ihren Nebenwohnsitz in einem anderen Bundesland bringen.

"Ich habe sie am Seiteneingang des Sanatoriums abgeholt und ihr aus dem Rollstuhl ins Auto geholfen", erinnert sich die Angeklagte. Plötzlich sei die Schwägerin am Eingang der Sackgasse erschienen und habe laut geschrien. "Meine Mutter war erschrocken und hat gesagt: 'Fahr schnell weg!'", behauptet die Angeklagte. Sie sei zum geschlossenen Ende der Sackgasse gefahren, habe gewendet und kam retour. Da das Auto des Bruders die Straße fast blockierte und die Schwägerin sie aufhalten wollte, sei sie zwischen einer Hauswand und Müllcontainern über den Gehsteig gefahren.

"Er ist uns ins Auto gelaufen!"

Nachdem das Hindernis mit einigen Lackschäden überwunden war, fuhr R. nach ihrer Darstellung zurück auf die Fahrbahn. "Es ging darum, die Mama wieder sicher nach Hause zu bringen", beschreibt sie ihre Motivation. Allerdings sei plötzlich ihr Bruder aufgetaucht: "Er ist vom Gehsteig auf die Fahrbahn gerannt. Er ist uns ins Auto gelaufen, vorsätzlich!" Sie habe ihn aber sicher nicht touchiert, ist die Angeklagte überzeugt, der Bruder habe noch den Scheibenwischer ergriffen, um sie zu stoppen, habe dann aber losgelassen.

"Im Akt sind aber auch Bilder der Verletzung am linken Daumen Ihres Bruders", merkt Richter Romstorfer an. "Wie ist die Ihrer Meinung nach entstanden?" – "Ich halte es für eine Selbstverletzung", vermutet die Angeklagte ein Komplott, um sie zu belasten.

Der Bruder, dessen Duktus frappant an den grandiosen Gerald Ralf Votava als Walter Fritschek in "Schlawiner" erinnert, schildert die Vorfälle viel dramatischer. Er und seine Gattin hätten die Mutter an diesem Tag besuchen wollen. "Wir sahen das Auto von Mutter, das unter Kontrolle von R. steht", spricht er von der Schwester nur mit deren Nachnamen. "Wir sind im Auto sitzen geblieben. Wir wollten Mama besuchen, nachdem R. weg ist", meint der 44-Jährige.

In "hohler Gasse" gesteckt

Plötzlich sei die Angeklagte zu Fuß aus der Sackgasse gekommen, habe das Auto geholt und sei zurück zum Nebeneingang gefahren. Er sei ausgestiegen, um sich im Sanatorium beim Personal zu erkundigen, was los sei, seine Frau sei Frau R. nachgefahren. Im Foyer habe seine Frau ihn angerufen, also sei er wieder hinausgelaufen. "Draußen habe ich gesehen, dass das Auto gleichsam in der hohlen Gasse auf dem Gehsteig beim Müllcontainer steckt", beschreibt der Zeuge.

Er will auch gesehen haben, dass die Schwester auf seine Frau zugefahren sei und letztere ausweichen musste. Als R. vom Gehsteig zurück auf die Fahrbahn gefahren sei, sei sie direkt auf ihn zugefahren. "Ich konnte gerade noch ausweichen, aber Frau R. hat mich mit dem linken vorderen Eck des Wagens am linken Unterschenkel getroffen", behauptet der Bruder. "Ist die Verletzung dokumentiert?", will der Richter wissen. "Hatten Sie einen blauen Fleck oder eine Prellung?" – "Nein", antwortet der Zeuge.

Durch den Kontakt sei er aber halb auf die Motorhaube gefallen und habe mit der linken Hand nach dem Scheibenwischer gegriffen, um sich festzuhalten. Dabei habe er sich am Daumen verletzt. 1.475 Euro Schmerzengeld will er von seiner Schwester dafür. Richter Romstorfer stört an der Schilderung etwas: Gegenüber der Polizei unmittelbar nach dem Vorfall hat der Zeuge laut Aktenvermerk weder erwähnt, dass R. auch auf seine Gattin losgefahren sei, noch dass der Wagen mit ihm kollidiert sei. "Ich hatte eine schwere, na ja, aus medizinischer Sicht nicht, aber für mich schwere Verletzung am Daumen, da habe ich nicht an das Bein gedacht", begründet er mit einer blutenden Schürfwunde, warum er eine Kollision mit – seiner Aussage nach – mindestens 20 km/h vergessen hatte.

Ursprünglich Entführung angezeigt

Verteidiger Pumberger treibt den Bruder noch mehr ins Eck. Denn laut polizeilichem Amtsvermerk habe er den Beamten geschildert, R. habe seine schreiende Mutter mit dem Kopf voran aus dem Rollstuhl in ihr Auto gestopft. Obwohl er das seiner Aussage vor Gericht zufolge nicht gesehen haben kann. "Ich habe der Polizei viele Dinge gesagt. Dass diese in chronologischer und kausaler Reihenfolge nicht richtig aufgenommen werden, dürfte hier bekannt sein", meint er trotzig. Tatsächlich hatten er und seine Frau ursprünglich die Entführung der Mutter angezeigt, R. kam deshalb sogar in Untersuchungshaft, das Verfahren wurde aber eingestellt.

Seine Gattin will als Zeugin eigentlich nur in Abwesenheit der Angeklagten aussagen, weder der Richter noch die Staatsanwältin sehen dazu aber irgendeinen Grund. Die 41-Jährige erzählt also in Gegenwart der ungeliebten Verwandten, sie habe noch die Tür des Autos öffnen können, da sie die Schwiegermutter "retten" wollte. R. sei dann mit offener Tür losgefahren und "in der Sackgasse hin- und hergerast". Sie selbst habe "zügig zur Seite gehen" müssen, um nicht erwischt zu werden. Zum angeblichen Unfall ihres Mannes kann sie überraschenderweise keine Details beisteuern.

Unbeteiligte widersprechen Zeugen

Damit können zwei Unbeteiligte dienen: Eine Anrainerin und ein Passant wollen beobachtet haben, dass der Bruder die hintere Tür des davonfahrenden Autos aufreißen wollte und sich dabei verletzt habe. Auch ein absichtliches Losfahren von R. in Richtung ihres Bruders wollen die Unbeteiligten nicht bezeugen.

"Wir haben sehr viele unterschiedliche Schilderungen des Sachverhalts gehört", fasst Romstorfer am Ende die Verhandlung zusammen. "Aber so, wie es der Bruder schildert, kann es nicht gewesen sein", begründet er seinen rechtskräftigen Freispruch. Für den Angesprochenen, der das Urteil im Zuseherraum emotionslos verfolgt, könnte das noch Folgen haben. Anklägerin Johnson beantragt eine Protokollabschrift der Verhandlung, um eine mögliche falsche Zeugenaussage zu prüfen. (Michael Möseneder, 7.5.2021)