Erwin Osens Porträt der Tänzerin Moa Mandu aus einer deutschen Privatsammlung.
Foto: Leopold-Museum / Thumberger

Den nackten haarlosen Körper theatralisch in Pose gesetzt, das Gesicht auffällig geschminkt, die Finger spielen mit den Brustwarzen, und die überkreuzten Beine verdecken das Geschlechtsteil: Lustknabe betitelte Erwin Osen mit krakeliger Handschrift das 1915 datierte Blatt.

Es entstand nicht etwa in einem Atelier, sondern im Garnisonspital und zeigt einen namentlich unbekannten Soldaten, der rückwirkend repräsentativ für all jene steht, deren sexuelle Orientierung damals im Umfeld der Armee pathologisiert wurde. Homosexualität und Transsexualität wurden abgelehnt: als Auswuchs männlicher "Verweichlichung", die als "Nervenschwäche" ausgelegt wurde.

Neurasthenie lautete der Fachbegriff, unter dem man schon an der Wende zum 20. Jahrhundert Beschwerden subsumierte, für die sich keine körperliche Ursache fand. Eine Diagnose, die auch Osen, einen mit Egon Schiele befreundeten Künstler, in jenem Jahr während des Ersten Weltkrieges in das Spital in der Artilleriekaserne am Rennweg führte: In seinem Fall war es eine chronische Erkrankung, die mit einem Gesichtstick (Nickkrampf) einherging und sich während der Grundausbildung verschlimmert hatte.

Erwin Dominik Osen als Akt mit überkreuzten Armen von Egon Schiele, (1910).
Foto: Leopold-Museum / Thumberger

Spannendes Schlaglicht

Nach zwei Behandlungszyklen wurde ihm schließlich die dauerhafte Untauglichkeit für den aktiven Militärdienst beschieden. Sein Spitalsaufenthalt ist über eine Gruppe von Zeichnungen dokumentiert, die erst vor kurzem eher zufällig auftauchten. Sie stammen aus dem Nachlass des 1968 verstorbenen österreichischen Mediziners und Elektropathologen Stefan Jellinek, der am Garnisonspital "Kriegsneurosen" behandelte und sich auf die Wirkung von elektrischem Strom auf den Körper spezialisiert hatte.

Die von Patient Osen geschaffenen Porträts seiner Kameraden dürften im Auftrag Jellineks entstanden sein, die im Besitz seiner Nachfahren erhalten blieben. Zwei solcher, darunter eingangs erwähnter Lustknabe, tauchten im März 2019 im Angebot eines schottischen Auktionshauses auf. Über Vermittlung von Gemma Blackshaw, auf "Wien um 1900" spezialisierte Kunsthistorikerin, gelang dem Leopold-Museum der Ankauf dieser beiden und weiterer Arbeiten auf Papier. Damit blieb die Gruppe für die Forschung geschlossen erhalten. Finanziert vom Freundeverein, wie Direktor Hans-Peter Wipplinger stolz erzählt.

Unbekannter Soldat: Erwin Osen schuf seine Zeichnung "Lustknabe" im Garnisonsspital. Repräsentativ steht es für all jene deren sexuelle Orientierung im Umfeld der Armee pathologisiert wurde.
Foto: Leopold-Museum / Thumberger

Nun widmet man diesen Werken – zusammen mit einer Auswahl solcher des "Hauskünstlers" Egon Schiele – die Sonderausstellung The Body Electric, in der die Kuratorinnen Gemma Bradshaw und Verena Gamper über künstlerische Aspekte hinaus ein spannendes Schlaglicht auf den Kontext der spezifischen Entstehungsgeschichte werfen. Ein überaus gelungener Wurf, der das Verständnis der Wiener Moderne und ihrer Kunstpraxis, die eng mit der Kultur der klinischen Medizin als patientenbezogene Praxis der Heilkunde verwoben war, bereichert.

Schiele ist mit Darstellungen von Schwangeren und Neugeborenen vertreten, die er 1910 – unterstützt von Gynäkologen Erwin von Graff – in der II. Frauenklinik anfertigte. Osen mit genannten und teils identifizierbaren Zeichnungen von Patienten sowie solchen, die er 1913 im Auftrag des Allgemeinmediziners Adolf Kronfeld in der psychiatrischen Klinik Am Steinhof schuf.

Gelungener Wurf: Einblick in die Sonderausstellung "The Body Electric".
Foto: Leopold Museum / Lisa Rastl

Körper als Subjekt

Neben diesem thematischen Schwerpunkt greift die zudem in digitaler Form auf der Website präsentierte Schau auch die nicht ganz konfliktfreie Verbindung der beiden Persönlichkeiten auf. Osen, der Mitbegründer der Neukunstgruppe und exaltierte Selbstdarsteller, der mit dem vergleichsweise zurückhaltenden Schiele über Jahre korrespondierte, ihn aber auch inspirierte. Im Gegensatz zum überaus präsenten Werk Schieles, geriet jenes von Osen in Vergessenheit und gilt weitestgehend als verschollen.

Die nun gezeigten Arbeiten zeugen von einer Sensibilität für die Verletzlichkeit und Menschlichkeit der Porträtierten. Und im Falle von der auch von Schiele verewigten Moa Mandu von einer Empathie für die sexuell zügellos anmutende Energie der Tänzerin.

Was Osen und Schiele einte? Das Interesse am Körper als Subjekt, "als jenes Mittel, durch das wir uns selbst und unsere Beziehungen zu anderen verstehen", betonen die Kuratorinnen. Darauf wies schon Walt Whitman hin, der in seinem berühmten Gedicht I Sing the Body Electric (Leaves of Grass, 1855) die Körperlichkeit als Psyche feierte. (Olga Kronsteiner, 8.5.2021)