Die Produktpalette der Firma Braun mit legendären Rams-Entwürfen um 1965. Die Firma feiert in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag.

Foto: Braun Werbeabteilung

Das Scharnier zwischen den stilbildenden Industriedesigns des späten 20. Jahrhunderts und der digitalen Gegenwart war eine Zitruspresse. Der kleine Jony bewunderte sie, sie stand in der Küche des elterlichen Haushalts in London. Er habe keine Ahnung von Design gehabt, sagt er heute, diese Presse aber habe ihn fasziniert: weiß, klar, ohne Schnickschnack, genau richtig proportioniert, und man habe sofort gesehen, wie sie zu bedienen war.

Ein paar Jahrzehnte später war Jony Ive Chefdesigner bei Apple und revolutionierte die Produktlinie des Unternehmens und damit unseren Zugang zur Kommunikationswelt, vom iMac bis zum iPad und alle "i"s dazwischen. Sein großes Vorbild aber war und ist bis heute Dieter Rams, der Gestalter jenes Küchengeräts und von mehr als 300 weiteren Produkten des Elektrogeräteherstellers Braun. Rams’ Entwürfe, so Ive, seien wie ein Grundkurs in Design schlechthin.

Die Firma Braun wird heuer 100 Jahre alt. Das war einer der Gründe, warum das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt, nicht weit vom Unternehmenssitz in Kronberg im Taunus, die Ausstellung Dieter Rams. Ein Blick zurück und voraus zeigt. Weitere dürften sein, dass das Museum die Designbestände von Braun als Dauerleihgabe erhalten und Kurator Klaus Kemp mit Rams ein Werkverzeichnis von dessen Arbeiten erstellt hat – wobei sogar der Designer selbst sich über den Umfang seines Œuvres gewundert haben soll.

Bauhaus und Ulm

Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der 1932 geborene Dieter Rams bereits als 25-Jähriger zu entwerfen begann. Wie viele seiner Generation suchte der Architekt und Tischler im postfaschistischen Deutschland nach einer neuen Definition von Formgebung, weg vom Pathos, hin zum Funktionalen. Das Bauhaus war ein Vorläufer gewesen, die Hochschule für Gestaltung in Ulm wies ab 1953 den Weg, Hans Gugelot und Fritz Eichler – neben Rams die bedeutendsten Designer bei Braun – personifizierten die Verbindung zwischen Ulm und Kronberg.

Rams trat 1955 in die Firma ein. Die bis dahin erzeugten Radios, Haushaltsgeräte und Rasierer waren solide und gut gebaut. Zwischen Produkten anderer Firmen, die ebenfalls gerne mit Holz, Bakelit oder Stoffüberzügen arbeiteten, fielen sie nicht weiter auf.

Was nun kam, fiel sehr wohl auf. Rams und sein Team entwarfen Geräte, die aufs Nötige reduziert waren – keine überflüssigen Verzierungen, weiße, schwarze und graue Gehäuse statt lockender Buntheit; auch keine beeindruckenden Modellnamen mehr wie früher "Edelsuper", "Manulux" oder gar "Mozart".

"SK 4" hieß die von Rams und Gugelot 1956 entworfene Kombination von Radio und Plattenspieler, wegen des Glasdeckels besser bekannt unter dem Namen Schneewittchensarg, berühmt für ihre zeitlos klare Formensprache und bis heute ein ikonisches Stück.

Übernahme und Verwässerung

Mit diesen und unzähligen weiteren Produkten in den folgenden sechs Jahrzehnten realisierte Rams, was ihm als gutes Design vorschwebte. Er plädierte für Langlebigkeit, Umweltverträglichkeit und Benutzerfreundlichkeit, lange bevor diese Argumente Allgemeingut oder zumindest Lippenbekenntnisse wurden. Das erklärt auch den Titel der Frankfurter Ausstellung: Der Blick zurück zeigt uns, wie vorausschauend Rams jenseits der Moden arbeitete und wie lang seine Entwürfe hielten.

30 Objekte und viel Text im Museum veranschaulichen die Karriere des Industriedesigners. Entworfen hat er für Braun und für andere Unternehmen, etwa das Regalsystem 606 für den Möbelhersteller Vitsoe, ebenfalls ein Kultobjekt unter Eingeweihten. Aber wie das manchmal so ist: Der Verkaufserfolg hielt nicht mit der Anerkennung mit.

Vielleicht waren die Produkte tatsächlich zu langlebig und zeitlos und wurden nicht oft genug durch Neumodisches ersetzt. Vielleicht war das Angebot von Gillette so attraktiv, das die Brüder Braun nicht ablehnen konnten. Jedenfalls übernahmen die US-Rasierklingenfabrikanten 1967 den deutschen Edelbetrieb, und spätestens in den Neunzigerjahren machte sich langsam eine Verwässerung des sprichwörtlichen Braun-Designs bemerkbar.

Dieter Rams um das Jahr 1960 in Frankfurt.
Foto: Dieter und Ingeborg Rams Archiv

Die Konkurrenz poppiger, bunter, "gefälliger" Produkte gab den Marketingchefs wohl zu denken (immerhin tippt auch Rams auf einer roten Valentine-Schreibmaschine von Sottsass, aber wohl nur, weil er keine eigene entworfen hat ...), und heute ist Braun, mehrmals zerlegt, lizenziert und neu zusammengesetzt, eine von mehr als 100 Marken von Procter & Gamble, und nur mehr in Teilen ist das Erbe Rams’ erkennbar.

Ive und Abloh

Was die Braun AG an unternehmerischer Power eingebüßt hat, hat sie als kulturelle Referenz gewonnen. Das zeigen die Hommagen von Jony Ive, mehrere Dokumentarfilme und Ausstellungen über den Chefdesigner. Der britische Popkünstler Richard Hamilton hat Rams verehrt und aus dessen Produkten Kunstwerke geschaffen. Der Radio-"Weltempfänger" T 1000 schaffte es in deutsche Botschaften weltweit und auf eine Briefmarke.

1965 hat Dieter Rams ein Hi-Fi-System gestaltet, das man an die Wand hängen kann. Für die Generation Z könnte dieses seltsam große, analoge System ("Tonbandgerät"?!) heute interessant werden, weil es Virgil Abloh, dem Gründer des Luxus-Streetwear-Labels Off-White und Männermode-Chefdesigner bei Louis Vuitton, ausnehmend gut gefällt. Als Verbeugung vor einem seiner Vorbilder und in Kooperation mit Braun hat er die Systemteile genommen und verchromt: Rams’ "Wandanlage" als Marketing-Kunstwerk. (Michael Freund, RONDO, 15.5.2021)