Die Flucht vor einem nächtlichen Planquadrat in Wien-Penzing brachte einem 20-Jährigen eine Anklage wegen Mordversuchs ein.

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Wien – "Sie haben das Schicksal von einem – ich komme aus Kärnten, und dort sagt man so – Biabl in der Hand", wendet sich Verteidiger Michael Dohr pathetisch an die Geschworenen. Die müssen unter dem Vorsitz von Andreas Hautz darüber entscheiden, ob Dohrs 20-jähriger Mandant Marko A. in der Nacht des 11. November in Wien-Penzing einen Mordversuch an einem Polizisten begangen hat, als er mit seinem Honda Civic auf zwei Polizisten zufuhr.

Interessanterweise gesteht selbst die Staatsanwältin in ihrem Eröffnungsplädoyer dem unbescholtenen A. zu, er habe sich entschlossen, "in Panik zu flüchten", nachdem er in einer Nebengasse in ein Planquadrat geraten war. Da er gestohlene Kennzeichen auf seinem Wagen hatte, beschleunigte der damals 19-Jährige und bog in eine Hauptstraße ab. Dort standen 70 bis 80 Meter entfernt zwei weitere Beamte, laut Anklage fuhr A. direkt auf einen davon zu.

Frontale Angriffe auf Staatsanwältin

Verteidiger Dohr explodiert bei seinen Eröffnungsworten fast und wirft der Staatsanwältin vor, "willkürlich" eine Anklage wegen Mordversuchs erhoben zu haben und in der Anklageschrift "unredlich" vorgegangen zu sein. Denn dort stehe, der Polizist habe sich "nur mit einem Sprung retten" können. Sowohl bei seiner Einvernahme während der Ermittlungen als auch nun als Zeuge vor Gericht sagt der Inspektor allerdings, er habe zwei rasche Schritte zur Seite gemacht, um dem mit 60 km/h nahenden Fahrzeug auszuweichen, und dann keine Gefahr mehr gesehen.

"Wie würden Sie es werten, wenn die Staatsanwältin etwas schreibt, was einfach nicht stimmt?", reagiert Dohr forsch auf die Bitte des Vorsitzenden, sachlich zu bleiben. Die angegriffene Anklägerin bittet nach einer Verhandlungspause, die Vorwürfe des Verteidigers ins Protokoll aufzunehmen, um ihn gegebenenfalls bei der Rechtsanwaltskammer anzeigen zu können.

A. selbst bekennt sich nur des ebenfalls angeklagten Widerstands gegen die Staatsgewalt für schuldig, jedwede Tötungsabsicht bestreitet er. Der Vorsitzende will zunächst etwas zum Hintergrund des Angeklagten wissen. Der erzählt, er habe vor der Pandemie in einem renommierten Restaurant als Kellner gearbeitet und inklusive Trinkgeld äußerst gut verdient. Mit seiner schwangeren Partnerin verschaffte er sich eine neue Wohnung, dann sorgte das Virus für seine Arbeitslosigkeit.

Kennzeichendiebstahl nach Versicherungsverlust

"Ich habe dann als Lieferant gearbeitet und nur mehr die Hälfte verdient", schildert der Angeklagte. Das Geld wurde knapp, er zahlte die Kfz-Versicherung nicht mehr. Die Folge war die Abnahme seiner Kennzeichentafeln. "Ich hatte schon einen Termin bei der Zulassungsstelle, um neue zu bekommen", verrät er. "Aber ich brauchte das Auto, um arbeiten zu können." Seine Lösung: Er stahl die Nummerntafeln eines anderen Fahrzeugs.

Zusätzlich wurde ein weiteres Kennzeichen in seinem Auto gefunden – A. sagt, das stammte von einem ersten Diebstahl, bei dem er das Heckschild allerdings nicht entfernen konnte. "Sie hatten auch eine Machete im Auto?", wundert Vorsitzender Hautz sich. "Ich bin klein und schmächtig. Die hatte ich zur Verteidigung", lautet die Antwort.

Allerdings benutzte A. seinen Wagen nicht nur zum Verdienen des Lebensunterhalts, am Tattag war er bei einem Freund, um diesem zu helfen. Als er gegen 22.20 Uhr auf dem Heimweg war, sah er zwei Polizisten, die ihn aufhielten. Er sei zunächst langsamer geworden, als ihm die illegal besorgten Kennzeichen einfielen. "Ich wusste nicht, dass es ein Planquadrat ist. Ich habe Gas gegeben, ich wollte flüchten", verteidigt sich der Angeklagte.

Schuss auf Flüchtenden

Er bog scharf rechts auf die Hauptstraße ab und gab Gas. Aus seiner Sicht passierte danach von seiner Seite aus nichts sonderlich Dramatisches mehr. "Ich habe zwei Polizisten gesehen, aber die sind schon ausgewichen. Ich bin einfach vorbeigefahren", behauptet er. Einer der Beamten schoss ihm nach, traf den Fahrgastraum und verletzte A. durch Splitter leicht. "Als ich weg war, habe ich gemerkt, dass ich Splitter auf der Schulter hatte und geblutet habe. Dann bin ich gleich zur Polizei gefahren und habe mich gestellt."

"Warum, glauben Sie, hat der Polizist auf Sie geschossen, wenn alles so ungefährlich war, wie Sie es darstellen?", will Hautz wissen. "Meiner Meinung nach wollte er den Helden spielen mit seinen 23, 24 Jahren", reagiert der 20-Jährige doch schnippisch. "Sie wirken schon etwas arrogant", merkt der Vorsitzende auch an, als A. auf eine Frage der Staatsanwältin mit einer Gegenfrage antwortet.

Jener Polizist, der den Schuss abgegeben hat, wird als erster Zeuge einvernommen. Wie die Staatsanwältin festhält, wurde das Strafverfahren gegen ihn vor drei Tagen eingestellt, der Vorsitzende weist den Beamten dennoch darauf hin, dass er sich nicht selbst belasten müsse.

Radkasten verfehlt

Der Inspektor erzählt, sie hätten von der Ecke die Kollegen schreien gehört, dann seien auch schon die Scheinwerfer zu sehen gewesen. Er habe seine Waffe gezogen, da der Wagen direkt auf seinen Kollegen zugesteuert worden sei, behauptet er. Auch er habe ausweichen müssen, in der Drehbewegung habe er dann versucht, auf den Radkasten des Fahrzeugs zu schießen, um den Flüchtenden zu stoppen.

Der Verteidiger glaubt ihm das nicht wirklich. Denn das Einschussloch in A.s Fahrzeug habe sich in 1,10 Meter Höhe befunden. Entweder habe der Zeuge höher gezielt, oder das Schießtraining der Exekutive sei extrem schlecht, ist Dohr überzeugt. Noch etwas stört ihn: Der Zeuge hat über das Verhalten seines Kollegen verschiedene Angaben gemacht. Einmal ist von einem Sprung zur Seite die Rede, dann nur von zwei Schritten. Es sei alles sehr schnell gegangen, zwischen den ursprünglichen Schreien der Kollegen an der Ecke und der Schussabgabe seien nur wenige Sekunden gelegen, entgegnet der Polizist, der übrigens 26 Jahre alt ist.

Geburtstag und Geburt verpasst

In seinem Schlusswort bittet der Angeklagte die Beamten um Entschuldigung und verdeutlicht den Geschworenen, was er in den sechs Monaten Untersuchungshaft alles versäumt habe – wenngleich in einer seltsamen Reihenfolge. "Ich hab vieles verpasst, meinen eigenen Geburtstag, die Geburt meines Sohnes – alles nur wegen meiner Dummheit!", bedauert er.

Die Geschworenen glauben ihm, dass er keine Verletzungsabsichten hatten. Vom Mordvorwurf wird er einstimmig freigesprochen, die Eventualfrage nach versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung wird ebenso mit acht zu null Stimmen verneint, für versuchte schwere Körperverletzung entscheiden sich zwei Laienrichterinnen und -richter, sechs sehen auch diese nicht.

Verurteilt wird er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt: A. erhält bei einem Strafrahmen von null bis fünf Jahren eine Strafe von 20 Monaten, fünf davon sind unbedingt, die hat er aber bereits in der Untersuchungshaft verbüßt. Zusätzlich wird Bewährungshilfe und eine Therapie bei der Männerberatung angeordnet. "Das war keine Kleinigkeit", stellt der Vorsitzende in der Begründung der Strafe klar, daher sei auch keine gänzlich bedingte Strafe möglich gewesen. A. steht auf, bedankt sich samt Verbeugung bei den Geschworenen, die Staatsanwältin gibt keine Erklärung ab, das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 10.5.2021)