Touristen-Exodus aus Ischgl am 13. März 2020

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Weiss: "Antidemokratische Tradition in Tirol".

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Fragwürdige PCR-Tests, die vermeintlich "Fluchtmutationen" des Coronavirus anzeigten, durchgeführt von einem Urologen, der in Wien vor Gericht steht und dem die Ärztekammer vorübergehend Berufsverbot erteilt hat; eine überraschende Regierungsumbildung inklusive Rücktritt des Gesundheitslandesrats – und ein Landeshauptmann, der meint, es könne "gar nicht besser laufen": Tirol kam in der Vorwoche nicht aus den negativen Schlagzeilen – nicht zum ersten Mal in dieser Pandemie. Die Tiroler Politologin Alexandra Weiss erklärt im Gespräch mit dem STANDARD, warum die Verhältnisse im "Heiligen Land" einigermaßen kompliziert sind.

STANDARD: Tirol, genauer Tirols Politik, steht gerade sehr in der Kritik. Was macht die "Tiroler Art" so speziell?

Weiss: Problematisch sind die Ignoranz gegenüber anderen und eine Beschränkung der Perspektive auf bestimmte Interessen. Der Umgang mit Ischgl und der vermeintlichen Fluchtmutation des Coronavirus hat das gezeigt. Es geht aber auch um historische Mythen und wie sie politisch eingesetzt werden. Ein Land, das einen Antisemiten, Frauenfeind und Aufklärungsgegner zum Landeshelden stilisiert, stellt seine Tradition auf eine antidemokratische Basis. Resultat ist ein pervertierter Freiheitsbegriff, der nichts mit demokratischen Grundwerten zu tun hat. Dazu kommt eine politische Monokultur im Land.

Weiss: "Antidemokratische Tradition in Tirol".
Foto: Julia Hitthaler

STANDARD: Was meinen Sie damit konkret?

Weiss: Die ÖVP dominiert dieses Land ohne nennenswertes Gegengewicht seit 1945. Man muss sagen, dass es – abgesehen von der Liste Fritz – kaum echte Oppositionsarbeit im Landtag gibt. Wenn aber das politische Handeln der Parteien in erster Linie daran ausgerichtet wird, attraktiver Koalitionspartner für die ÖVP zu sein, hat das einen Preis: Es fehlt an Transparenz und Kontrolle.

STANDARD: Warum ist Tirol gerade jetzt so in den Schlagzeilen?

Weiss: Weil das Handeln der politischen Elite erstmals über die Landesgrenzen hinaus wirkte. In der Pandemiekrise wurde sichtbar, wie schädlich dieses System ist. Die Gesundheit der Menschen wurde von der Landesregierung aufs Spiel gesetzt. Sich dann auch noch als Opfer zu inszenieren – wie vor wenigen Wochen wieder –, hat den Bogen überspannt. Man war hier Täter, nicht Opfer. Und man hat sich bis heute nicht bei den Menschen angemessen entschuldigt. Das ist politisch falsch und menschlich ganz klein.

STANDARD: Vor allem männliche Tiroler Politiker traten, von außen betrachtet, sehr dominant auf in der Krise. Täuscht das?

Weiss: Mit der Krise sind Politikerinnen vorerst einmal verschwunden. Der "Luder"-Sager des Landeshauptmann-Stellvertreters Josef Geisler hat aber wohl zwei Probleme Tiroler Politik deutlich gemacht: den ausgeprägten Machismo der Männer in der Tiroler ÖVP und einen feudalen Gestus. Wenn der Politiker spricht, hat die Bürgerin zu schweigen.

STANDARD: Wie erklärt sich die anhaltende Stärke der ÖVP in Tirol an den Wahlurnen?

Weiss: Das ist ganz klar auch die Schwäche der Opposition. Aber natürlich ist ein mangelhaftes Demokratieverständnis der politischen Elite zentral. Demokratiepolitisch müssen alle im Land dazulernen.

STANDARD: Was müsste sich aus Ihrer Sicht als Lehre aus der Corona-Krise sofort ändern?

Weiss: Wesentlich ist wohl, dass Expertise vor Parteiloyalität gehen muss und Kritik auch und gerade in einer Pandemie für eine Demokratie selbstverständlich sein muss. In Tirol gilt man ja sehr schnell als Nestbeschmutzerin. Aber auch eine angemessene Vertretung von Frauen in Krisenstäben ist wesentlich. Denn wie beschränkt der Blick ist, wenn ihre Interessen nicht repräsentiert sind, haben wir jetzt deutlich gesehen. (Petra Stuiber, 10.5.2021)