Regina M. wohnt direkt über einem gewalttätigen Mann und wird schließlich von ihm schwer verletzt.

Foto: Robert Newald

Es sind Fälle, die auch in der aktuellen intensiven Debatte über Gewalt und Femizide untergehen. Fälle, in denen Frauen körperlich und psychisch verletzt werden, oft schwer und gerade einmal so mit dem Leben davongekommen sind. Diese Gewalttaten landen zwar glücklicherweise nicht auf der Liste der Frauenmorde, es ist aber eben oft nur das: reines Glück, dass sie überlebt haben.

In Österreich müssen jährlich mehr als 3.000 Frauen und Kinder vor gewalttätigen Männern – meistens sind es die eigenen Ehemänner oder Lebensgefährten – in ein Frauenhaus fliehen. Ex-Partner und Verwandte sind zum größten Teil die Täter, aber auch Frauen im näheren Umfeld eines Gewalttäters sind gefährdet. Etwa die Nachbarin, wie bei Regina M. Die 39-Jährige wohnte direkt über der Wohnung eines Mannes mit "polizeibekannter Psychose", wie es im Polizeibericht steht.

Als gefährlich fiel der Mann schon öfter auf, an einem Morgen im April dieses Jahres, kurz nach sieben Uhr in der Früh, schlägt er seine Nachbarin Regina M. brutal zusammen. "Er war von der Idee besessen, die Nachbarn hätten das Haus verkabelt, um ihn abzuhören," erzählt Regina M. In ihr sieht er eine "Mittäterin" und droht, sie umzubringen. Ihre Geschichte kann Regina M. wenige Woche nach der Gewalttat nur mit Unterstützung ihrer Freundin erzählen. Dass es nicht noch schlimmer gekommen ist, sei nur dem raschen Einschreiten von Nachbar*innen zu verdanken.

Eine Zeitlang ist es ruhig

Regina M. lebte seit über zehn Jahren in jenem Wohnhaus in Wien. Es ist eine Nachbarschaft, in der man einander kennt, zumindest flüchtig. Auch jenen Mann, der sie später krankenhausreif prügelt, hat sie gekannt: Der junge Familienvater zog mit seiner Ehefrau und Kindern vor etwa anderthalb Jahren in die Wohnung unter ihr. Anfangs sind die Begegnungen herzlich. Die sozial engagierte Regina M. hilft dem jungen Paar bei der Beschaffung von Möbeln, es gibt Einstandsbesuche, der Kontakt ist freundschaftlich.

Nach und nach beobachtet Regina M. aber beunruhigende Veränderungen: Möbel werden zerschlagen und stehen am Gang, aus der Wohnung ist immer wieder Streit und lautes Schreien zu hören. Regina M. klopft manchmal an, erhält auf Nachfrage jedoch weder vonseiten des Mannes noch von seiner Ehefrau eine schlüssige Antwort. Eindeutige Anzeichen von körperlicher Gewalt kann sie nicht erkennen. Eines Tages läuft die Ehefrau auf die Straße, versucht, sich vor ein Auto zu werfen. Nun wird eine Betreuung der Ehefrau und der Kinder durch Jugendhilfe und Krisenintervention eingeleitet, der Mann wird psychiatrisch behandelt. Er entschuldigt sich bei den Nachbarn für sein bisheriges Verhalten, verspricht, Medikamente zu nehmen, die ihm verschrieben wurden.

Angst, an seiner Wohnung vorbeizugehen

Eine Zeitlang scheint alles ruhig, doch nur vorübergehend. Schließlich, vor wenigen Wochen, suchen die Frau und die Kinder Zuflucht im Frauenhaus. Der Mann lebt aber nach wie vor im Haus, jetzt allein, und es scheint, dass sich sein Zustand in der Isolation verschlimmert. Er fühlt sich verfolgt, immer wieder randaliert er, ist aggressiv, zerschlägt Möbel, schreit oft stundenlang, nicht nur tagsüber, sondern auch nachts.

"Er konnte hören, wann ich die Wohnung verließ, und brach hinter seiner Tür in aggressives Geschrei aus", erzählt Regina M., die direkt oberhalb wohnt. Sie hat mittlerweile Angst, an seiner Wohnungstür vorbeizugehen, es gibt jedoch keinen Lift im Haus und somit keine andere Möglichkeit. Ihre Nachbarin berichtet, dass der Mann sie immer wieder am Gang anspricht und sie sich durch ihn sehr verunsichert fühlt; beide Frauen fürchten, der Mann könnte gegen sie tätlich werden.

Wohin sie sich hätten wenden können, wusste sich nicht. Die Polizei hat bei strafrechtlich nicht relevanten Vorkommnissen wie Möbelzerschlagen und Geschrei, so bedrohlich diese für die Hausbewohner*innen auch sein mögen, keine Handhabe – die Frauen fühlten sich in dieser Situation auf sich selbst gestellt. Um sich zumindest gegenseitig helfen zu können, hatten sie einen Code vereinbart. "Schrei laut meinen Namen, wenn er dir was tut, dann weiß ich, dass es ernst ist!" Das hat dann auch genau so funktioniert. Durch das ständige Schreien des Mannes war man im Haus schon so abgestumpft, dass sie fürchtete, einen "normalen" Hilferuf zu überhören – auf ihren Namen zumindest würde sie aber reagieren.

Eskalation

Drei Tage vor der Tat kommt es zu einem weiteren Polizeieinsatz. Diesmal muss auch die Feuerwehr ausrücken. Auf der Suche nach Waffen, die er in der Therme versteckt wähnt, hat der offensichtlich verwirrte Mann ein Leck in der Gasleitung verursacht, im ganzen Haus riecht es nach Gas. Im Zuge dieses Vorfalls verspricht die Polizei, dass sie den Mann dazu bewegen wird, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen – zwei Tage später stellt Regina M. jedoch fest, dass er in seine Wohnung zurückgekehrt ist. Er überfällt sie mit Geschrei und Vorwürfen, sie habe gemeinsam mit anderen Personen Abhörvorrichtungen im Haus angebracht.

Um etwa zwei Uhr morgens wacht Regina M. auf, weil er erneut lautstark Gegenstände zerstört – und zwar im Badezimmer, wo sich die Therme befindet. Aus Angst vor einem neuerlichen Gasaustritt begibt sie sich vors Haus, verständigt die Polizei und wird durchs Fenster von ihrem Nachbarn aggressiv beschimpft. Der Polizei teilt der Mann mit, er könne durch ihr "unablässiges Getrampel" nicht schlafen. Die Polizei beruhigt und rät allen, weiterzuschlafen.

Gewalttat und erneute Gefährdung

Am selben Morgen, kurz nach sieben Uhr Früh, als Regina M. ihre Wohnung verlässt, überfällt der Mann sie vor ihrer Tür, schlägt mit Fäusten unablässig auf sie ein und droht dabei, sie umzubringen. Obwohl sie sich verzweifelt zur Wehr setzt und Nachbar*innen dank ihrer Hilfeschreie sofort einschreiten, wird sie schwer verletzt: Gehirnerschütterung, Kiefer- und Jochbeinprellung, Zahnverlust, eine herunterhängende Lippe, die genäht werden muss. Wie sich etwas später zeigt, sind auch Rücken und Halswirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen – von den psychischen Effekten, die eine so massive Gewalttat nach sich zieht, ganz zu schweigen.

Der Täter flieht, die Polizei nimmt den Vorfall zu Protokoll, Regina M. wird ins Krankenhaus gebracht.

Vorbei es damit aber noch immer nicht. Als Regina M. vom Krankenhaus in ihre Wohnung zurückkehrt, stellt sich heraus, dass sie dort keineswegs in Sicherheit ist. Der Täter befindet sich im Haus, in der Wohnung direkt unter ihr. "Es wäre auch weiter möglich gewesen, dem Mann, der vor kurzem erfolglos versucht hat, mich umzubringen, erneut allein auf dem Gang zu begegnen", erzählt sie. Dass sie eine weitere Attacke in ihrem bereits geschwächten Zustand nochmals überlebt hätte, hält sie für unwahrscheinlich.

Regina M. ruft sofort die Polizei an, der Täter wird nun unverzüglich festgenommen. Die Polizei sichert Regina M. zu, dass man sie verständigen werde, sollte er wieder auf freien Fuß gesetzt werden.

Der Zahnarzt

Dann beginnt für die 39-Jährige die Zeit der Regeneration und der Therapien. Zahlreiche Besuche bei Haus- und Amtsärzten- und Ärztinnen stehen an, um das Verheilen der Wunden zu beobachten; eine Physiotherapie soll helfen, die Schmerzen in Kopf und Rücken zu lindern. Auch zum Zahnarzt muss sie. Durch die Schläge war ihr unter anderem ein Zahn samt der Wurzel ausgeschlagen worden. Um den Zahnverlust ohne viele Worte erklären zu müssen, legt sie dort den Bericht von Polizei und erstbehandelndem Arzt vor. Dem Zahnarzt liegen somit der Tathergang und das Ausmaß der erlittenen Verletzungen schwarz auf weiß vor. Der Zahnarzt liest den Bericht – um sich sodann gutgelaunt an Regina M. zu wenden und zu sagen: "Na, wie ich sehe, flirten Sie gern mit Männern!"

Regina M. ist fassungslos, versucht aber dennoch zu erklären, was ihr zugestoßen ist. Den Zahnarzt veranlasst das jedoch keinesfalls zu einer Entschuldigung, vielmehr will er nun wissen, um welche Uhrzeit denn der Mann bei ihr "angeläutet" habe? Angeläutet? Vielmehr hatte der Täter ihr am Gang aufgelauert. "Der Zahnarzt unterstellte mir ein 'Flirtverhalten' oder eine 'Beziehung', so, als ob dies die Schwere des Verbrechens irgendwie relativieren würde", erzählt Regina M. Er tat dies auf eine Art, die wohl "lustig" sein sollte.

Die aktuelle Häufung der Frauenmorde in den vergangenen Wochen sei der Anlass gewesen, ihre Geschichte zu erzählen, sagt jene Freundin von Regina M., die ihr geholfen hat, das Erlebte in Worte zu fassen und Sätze dazu zu formulieren.

Die juristische Aufarbeitung geht erst los; im Hinblick auf den bevorstehenden Prozess, dem sie mit Anspannung entgegensieht, wird Regina M. von der Kriminalitätsopferhilfe Weißer Ring betreut. Schlimm, sagt sie, sind die Albträume, die sie seit dem Angriff quälen. Dass die Tat direkt vor ihrer Tür stattfand und jedes Verlassen und Betreten ihrer Wohnung sie daran erinnert, macht es ihr nicht gerade einfach, sich in der eigenen Umgebung wieder sicher zu fühlen. (Beate Hausbichler, 14.5.2021)