"Eigentlich sind meine Bücher Zeitungen", sagt der steirische Autor Egon Christian Leitner. Aufmerksamkeit für sie fehlte aber lange.

Foto: M. Leitner

Zu Anfang der Pandemie richtete Egon Christian Leitner sich mit Anregungen an den Bundeskanzler. Etwa, dass viele Politiker die Masken falsch trügen und so zu Gefährdern würden. Auch über fehlende Fehlerkultur klagte Leitner. Die Intervention ist in seinem neuen Buch Ich zähle jetzt bis 3 nachzulesen, dem letzten Teil seines Buchprojekts "Sozialstaatsroman". 1200 Seiten umfassten die bisherigen drei Teile (2012 erschienen).

Die hinzugekommenen 900 klein und eng bedruckten Seiten setzen das Epos der Ungerechtigkeit, des Fehlens von Gemeinschaft und Zusammenhalt fort. Es geht um Obdachlose und Flüchtlinge, Krankheit, Gewalt, Abhängigkeiten, Neoliberalismus. Als Panorama erinnert das fast an Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit. Die Einträge ufern aber ebenso aus in Geschichte, Philosophie, Religion und Literatur. "Im Sozialstaatsroman stehe ich drinnen", schreibt der 1961 in Graz geborene Autor – auch das stimmt.

Schreiben zum Überleben

Denn zum Schreiben gekommen ist er 1979 als Realitätsbewältigung. Ab seinem 13. Lebensjahr pflegender Angehöriger, wurde das Schreiben zur Selbsthilfe. "Was ist geschehen? Wie wird das weitergehen? Das waren für mich Überlebensfragen", sagt Leitner im Rückblick. Gertrude Steins tender buttons und Peter Handkes Wunschloses Unglück hätten ihm dabei geholfen, die Wirklichkeit so darstellen zu können, wie er sie erlebt habe. Er studierte klassische Philologie und Philosophie, begann dann in der Krankenpflege und der Flüchtlingshilfe zu arbeiten.

Selbstrettung ist nicht mehr das Hauptanliegen. Leitner will sich "einmischen" und schreibend die Menschen mit der Wirklichkeit konfrontieren. Er will, dass das, was er beschreibt, "aufhört zu geschehen".

Das liest sich dann so: "Es wird zu viel über Inflation geredet statt über die seit Jahren zu niedrigen Löhne." Oder so: "Die künstliche Intelligenz verdoppelt sich angeblich fast jährlich. Die biologische, soziale, emotionale aber eben bleibt, wie sie war und ist." Besonders nach hallt der Satz: "Die Leute warten immer dermaßen lange mit dem Helfen. Und dann reden sie von Kurzschluss, wenn einer nicht mehr kann."

"Hässliches Thema für hässliche Menschen"

Denkt man an die jüngsten Femizide, sei ein großes Problem, dass Gewalt gegen Frauen noch immer als Unterschichtsproblematik missverstanden und deshalb nicht ordentlich angepackt werde, sagt Leitner. "Denn die Politiker kommen nicht aus der Unterschicht und leben nicht in der Unterschicht. Es ist ein hässliches Thema für hässliche Menschen." Außerdem findet er, dass den Politikern Empfindungsfähigkeit verloren gegangen sei. "Das ist eine Form der Wohlstandsverwahrlosung der Führungskräfte."

Sie könnten bei Leitner nachlesen. Für seine Bücher erfindet er nicht, sondern anonymisiert nur. So muss er keine Tabus scheuen und kann besser nachdenken. Es geht ihm zudem nicht um eine konkrete Person, sondern um Phänomene, Mechanismen, das System. Was ihm auffällt, bringt er binnen einer Woche zu Papier. "Wenn ich etwas vergesse, war es nicht so wichtig." Durch richtiges Miteinander-Reden könnten wir uns viel Leid ersparen.

Als Außenseiter im Betrieb passiert es ihm öfters, dass jemand zu ihm sagt, so gehe dies oder jenes nicht. Insofern überrascht es, dass Leitner letztes Jahr am Bachmannpreis teilnahm und den dritten Platz machte. "Als Autor sucht man Öffentlichkeit, der Bachmannpreis ist eine Möglichkeit. Gerade wenn andere Kanäle verstopft sind", sagt er.

Helfen als Erfolg

Der Bachmanntext war eindrücklich, diese Dichte hält der Band nun nicht durch. Auch wenn er erst in Klagenfurt vielen auf dem Radar erschienen ist: Publikum hatte Leitner auch davor. Seit dem Jahr 2000 tritt er auf, und viele Begegnungen fallen ihm ein, bei denen Zuhörer ihm dankten, seine Bücher hätten sie aus einer Depression geholt und ihnen geholfen. "Eigentlich brauch ich nur einen Menschen, dem ein Buch von mir nützt, das reicht mir schon." Für ihn auch eine Art Erfolg.

"Ich habe keinerlei Plan. Nur gut ausgehen soll alles. Früher höre ich nicht auf", kann man in Ich zähle jetzt bis 3 lesen. Im Dezember kam der Mission ein Herzinfarkt dazwischen, seither ärgert Leitner etwa auch, dass "die EU die Transfette (= am gefährlichsten) partout nicht kennzeichnen lässt auf den Verpackungen". Er soll sich noch schonen.

"Verdrittweltlichung" Österreichs

Leitner will niemanden anschwärzen, trotzdem erhält er auch negative Reaktionen, etwa von Geschäftsführern von Hilfsinstitutionen. Je perfekter man erscheinen müsse, umso weniger könne man Probleme äußern, umreißt Leitner die Falle: "Das führt dazu, dass Patienten gefährlich versorgt werden."

Durch Corona ist für Leitner völlig klar geworden, wo in Österreich es zu einer "Verdrittweltlichung" der Zustände komme und wo sowieso "Dritte-Welt-Zustände" herrschen. "Sie kommen ja nicht durch die Ausländer nach Österreich, sondern sie existieren in der Altenpflege, in der Obsorge, im Frauenschutz", sagt er. Dabei sei nichts von dem, was er je erlebt habe, unabänderlich gewesen. Jedem hätte man helfen können. Man muss nur davon wissen. (Michael Wurmitzer, 12.5.2021)