Als Kunstprophet geliebt und als Scharlatan gehasst: Joseph Beuys inszenierte sich wie kein anderer. Wie man heute mit der Debatte um den Mann mit Hut und Anglerweste umgehen kann, erklärt der Kunsthistoriker und Biograf Philip Ursprung.

STANDARD: Warum polarisiert Joseph Beuys heute immer noch?

Ursprung: Weil er immer wieder die Grenzen der Kunst aufgezeigt und übertreten hat. Diese Überschreitung hat die Grenzwärter, Kritiker, Akademiker und Politiker provoziert. Beuys hat es darauf abgesehen. Das hat zu seinen Lebzeiten permanent dazu geführt, dass er die Szene zwischen Anhängern und Gegnern geteilt hat. Und teilweise funktioniert das bis heute.

Filz und Fett: Mit der "Tatarenlegende" schuf Beuys einen Mythos, der immer noch gern gehört wird. Ein ungelöstes Rätsel falscher Tatsachen.
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STANDARD: Sie haben im März die Biografie "Joseph Beuys. Kunst Kapital Revolution" herausgebracht. Was war Ihr Ansatz?

Ursprung: Ich habe versucht, einen Ansatz zu finden, der jenseits dieser Polarisierung stattfindet. Also weder kritiklos verherrlichend noch ausschließlich problematisierend. Eine kritische Revision ist nötig. Beuys war kein Genie – es gibt keine Genies, das sind Fiktionen. Ich wollte mich von der Fixierung der Stereotype seiner Person lösen und die Diskussion entspannen.

STANDARD: Zu dieser Diskussion hat nicht zuletzt der Publizist Hans Peter Riegel mit seiner Biografie beigetragen, die 2013 und dann in neuer Auflage 2018 für Furore sorgte. Darin wurde Beuys in ein rechtes Eck gestellt. Wie sehen Sie diese Vorwürfen?

Ursprung: Die Vorwürfe gehen ja eigentlich auf 1980 zurück. Noch zu seinen Lebzeiten kam Kritik auf, dass der von Beuys geschaffene Mythos seine Verstrickung mit dem Zweiten Weltkrieg nicht erhellte, sondern verbrämte. Also dazu beitrug, die Erinnerungen an den Krieg und somit den Nationalsozialismus zu verdrängen. Diese Kritik wurde in den 1990er-Jahren weitergeführt und schließlich von Riegel aufgegriffen. Aus meiner Sicht ist das wichtig, weil der Mainstream der Beuys-Rezeption derart verherrlichend war und eine ausgewogene Besprechung fast unmöglich machte. Diese kritische Revision hat die Diskussion wieder aktiviert.

STANDARD: Allen voran wurde ihm ja auch die Nähe zur anthroposophischen Lehre von Rudolf Steiner und der darin enthaltenen "esoterischen Rassenkunde" vorgeworfen. Kann man das einfach ignorieren?

Ursprung: Nein, das sollte man nicht ignorieren. Aber es ist nötig, zu differenzieren. Es gibt bei Steiner Begriffe, die mit rassistischen, völkischen und kolonialistischen Ideologien seiner Zeit zusammenhängen. Aber man kann nicht sagen, dass er ein Rassist oder ein Antisemit war. Meine Interpretation ist, dass sich Beuys aus der Esoterik herausgriff, was ihm passte, und es in sein eigenes Weltbild montierte. Bei Beuys kann ich keine völkische, also rassistische und antisemitische Haltung finden.

STANDARD: Riegel widerlegte auch den bekanntesten Mythos: Beuys wurde nicht, wie er es immer erzählt hatte, nach einem Flugzeugabsturz auf der Krim im Krieg von Tataren mit Filz und Fett gesundgepflegt, sondern kam leicht verwundet in ein Lazarett. Warum wurde diese Legende so lange am Leben erhalten?

Ursprung: Es ist ein Mythos, den er und auch die Rezeption geschaffen haben. Es ist eine Geschichte, die alle gern hören. Sie enthält einen Schlüssel zur mysteriösen Bedeutung von Filz und Fett in seinem Werk. Die Biografie des Einzelnen wird mit der Kunst und der Geschichte Deutschlands verknüpft. Ich stelle im Buch die Behauptung auf, dass der Mythos mit dem Marshallplan zusammenhängt: Der abgestürzte Krieger lässt sich als Verkörperung Deutschlands interpretieren, das nach dem Krieg am Boden liegt und dem durch die Alliierten wieder auf die Beine geholfen wird. Da ist eine Fülle an Interpretationen möglich. Gerade die Unlösbarkeit des Rätsels trägt zur Popularität der Geschichte bei. Dabei entspricht vieles nicht den Tatsachen, aber einen Mythos kann man nicht mit den gleichen Kriterien analysieren wie beispielsweise eine Straftat.

Philip Ursprung lehrt als Professor an der ETH Zürich.
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STANDARD: Sie schreiben, dass diese "Tatarenlegende" Beuys für seine Kritiker zum "Scharlatan" machte. Welche Folgen hatte das für den Künstler?

Ursprung: Beuys’ Biografie und seine Person sind untrennbar mit seinem Werk verbunden. Das heißt nicht, dass das Werk ohne seine Präsenz, also nach seinem Tod, nicht mehr funktioniert. Aber das Wissen um die Biografie funktioniert fast wie ein Bilderrahmen, der den Horizont des Kunstwerks bildet. Dazu kommt, dass seine Kunst fast zu einem Monument für die deutsche Kunst geworden ist, an dem viele mitwirken: Biografen, Jünger, Gegner. Man kann auch die Rezeption nicht säuberlich vom Werk trennen. Das macht es ja auch historisch so faszinierend. Der "Fall Beuys", wenn man so will, unterscheidet sich von den meisten anderen Künstlern, die nicht derart verstrickt sind in die allgemeine Geschichte.

STANDARD: Sie haben die Rückbindung an Beuys’ eigene Vergangenheit entkoppelt und erzählen sie anhand der Geschichte der Nachkriegszeit. Ein gewagter Versuch?

Ursprung: Es war ein Experiment. Ich behaupte nicht, dass ich den Schlüssel zur Bedeutung der Kunst von Beuys habe. Obwohl ich auch nicht glaube, dass Beuys den selbst hatte. Um aber nachvollziehen zu können, warum einen diese Kunst nicht loslässt, muss es noch etwas anderes geben als den Rückbezug auf den Zweiten Weltkrieg oder die Orientierung an den Ideen von Rudolf Steiner. Deswegen bringe ich die europäische Geschichte ins Spiel. Ich mache die vereinfachte Gleichung: europäische Integration als größtes politisches Projekt meiner Generation und Beuys als wirkungsvollsten Künstler meiner Generation. Und versuche aus ferner Zukunft zurückzublicken und zu fragen, wie das zusammenhängt.

STANDARD: Oft wird gesagt, dass Beuys selbst sein größtes Kunstwerk war. Er hat sich selbst zum überhöhten Propheten stilisiert. Wie wird diese Inszenierung heute wahrgenommen?

Ursprung: Die Autorität, die Selbstinszenierung als Genie und die Überhöhung der eigenen Person sind heute überholt, ein Anachronismus. Was ihn heute für eine junge Generation vielleicht interessant macht, ist die Demokratisierung der Kunst. Er zeigte, wie Kunst und Politik verbunden werden können und wie man die Grenzen der Kunst erweitert und überschreitet. (Katharina Rustler, 12.5.2021)