Der Konflikt um Ostjerusalem gibt der Hamas neuen Auftrieb.

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Nach Jahren relativer Ruhe ist die neuerliche Eskalation der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern für viele überraschend gekommen und lässt sich zum Teil mit taktischen Fehlentscheidungen und politischem Opportunismus auf beiden Seiten erklären – mit dem umstrittenen Verfahren zur Enteignung mehrerer arabischer Familien in Ostjerusalem, dem ungeschickten Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte bei Beginn der Proteste, der erneuten Annullierung von Wahlen durch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, die vor allem die Hamas empört, auch mit dem Ramadan, in dem Emotionen besonders leicht angeheizt werden können.

Aber dahinter steht ein grundlegender Konflikt, der in den vergangenen Jahren zwar in den Hintergrund gerückt ist, aber bei der ersten Gelegenheit wieder ausbricht: der um den Status und die Zukunft von Jerusalem. Für die israelische Politik ist das vereinte Jerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates zum Dogma geworden, an dem kaum jemand zu rütteln wagt. Aber diese Vision übersieht, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung Palästinenser sind und diese Ostjerusalem, die größte palästinensische Stadt, auch mit gutem Recht als Hauptstadt ihres zukünftigen Staates beanspruchen. Daran ändert auch der massive Bau jüdischer Stadtviertel und Siedlungen auf dem annektierten Gebiet nichts.

Israels Lebenslüge

Auch nachdem die USA unter Donald Trump 2018 Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt und die US-Botschaft von Tel Aviv dorthin verlegt haben, ist dieser Status völkerrechtlich unhaltbar. Er steht auch im Widerspruch zur Realität: Ein vereintes Jerusalem kann nur die Hauptstadt eines jüdischen Staates bei ständiger Unterdrückung der arabischen Bevölkerung sein. Dass die muslimische Welt die israelische Souveränität über ganz Jerusalem je akzeptieren wird, ist undenkbar. Israels Lebenslüge wird so zu einer ständigen Quelle der Gewalt.

Eine offene Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung kann sich Israel weder politisch noch moralisch leisten. So versucht man mit kleinen Schikanen, die Menschen zur Abwanderung zu bewegen oder ihnen die Bewohnerrechte zu entziehen. Die Enteignung von Häusern, die vor 1948 jüdisches Eigentum waren, ist ein Teil davon, ebenso die Weigerung, Bewohner Ostjerusalems an der Palästinenserwahl teilnehmen zu lassen, was Abbas als Vorwand für die Wahlabsage diente. Und vor allem baut Israel Jahr für Jahr neue jüdische Stadtviertel und Siedlungen im Osten und beschneidet damit die Lebenschancen der Palästinenser weiter.

Jerusalem als Zornbank

Als bei der Übersiedlung der US-Botschaft der große Aufschrei in der arabischen und muslimischen Welt ausblieb, dachten viele Israelis, die Jerusalem-Frage sei de facto gelöst. Selbstbewusst erklärte Premier Benjamin Netanjahu am Sonntag, als Israel den Jahrestag der Eroberung des Ostteils im Sechstagekrieg 1967 feierte: "Jerusalem ist Israels Hauptstadt. Und so wie jede Nation in ihrer Hauptstadt baut und ihre Hauptstadt aufbaut, haben auch wir das Recht, in Jerusalem zu bauen und Jerusalem aufzubauen."

Aber diese Politik ist für die Palästinenser eine Provokation und eine Aggression. Jerusalem wird damit zu dem, was Peter Sloterdijk in seinem Buch "Zorn und Zeit" eine Zornbank genannt hat, die jederzeit angezapft werden kann. Genau dies hat die Hamas nun getan. Indem sie die Proteste über die geplante Enteignung in Jerusalem als Anlass nahm, um Israel mit Raketen anzugreifen, hat sie sich dieses Themas bemächtigt und so ihre Stellung als eigentliche Führungskraft der Palästinenser auch ohne Wahlen bekräftigt.

Natürlich sorgen die immer öfter tödlichen Raketenangriffe auf zivile Ziele in Israel für Empörung. Aus Sicht der Hamas aber ist das Vorgehen völlig rational. Der Blutzoll der vergangenen Tage hat gezeigt, dass die militärische Stärke der Hamas gewachsen ist und sie als einzige Gruppierung Israel echte Schmerzen zufügen kann.

Das Selbstbewusstsein der Hamas bringt Israel ins Dilemma. Es kann die Herrschaft der Hamas über den Gazastreifen ohne einen sehr hohen Blutzoll der eigenen Bevölkerung nicht beenden, und dazu sind die Israelis nicht bereit. Anhaltende Luftschläge gegen Einrichtungen der Hamas können die Islamisten zwar schwächen, aber nicht vernichten. Und je höher die Opferbilanz bei Zivilisten in Gaza, desto stärker die internationale Kritik an Israel, auch vom Verbündeten USA. Die Leidensbereitschaft der dortigen Palästinenser ist nicht unbegrenzt, aber sie ist jedenfalls höher als die der Israelis.

Netanjahus Kalkül

Der Konflikt mag Netanjahu innenpolitisch in die Hände spielen, weil er die Bildung einer Regierung seiner Gegner erschwert. Aber wenn die Gewalt länger anhält, dann kommt auch der Langzeitpremier in Erklärungsnot, warum er diese Eskalation nicht verhindert hat. Allein der Hamas die Schuld in die Schuhe zu schieben ist nicht genug. Was im Nahen Osten geschieht, hängt auch von Entscheidungen der israelischen Führung ab.

Aber nicht nur: Vielleicht kommt die Hamas-Führung in einigen Tagen zum Schluss, dass sie mit ihrer Machtdemonstration alles erreicht hat, was sie wollte. Sie kann sich dann mit gutem Grund zum Sieger erklären. Für Israel und Abbas wäre dies eine Niederlage. (Eric Frey, 12.5.2021)