Julian Schutting (83) wandelt auf Wilhelm Müllers Spuren.

Foto: Marko Lipus

Es gehört unbändiger Mut dazu, der Welt beschwerlichste Reise erneut anzutreten: auf regenerierten Versfüßen. Wer wie Julian Schutting in dem neuen Gedichtband "Winterreise" eine solche Expedition ins Innere der Seele unternimmt, schlüpft in geflickte Schuhe. Zerrissenes Schuhwerk bezeugt die Mühsal eines auf Wanderschaft zugebrachten Lebens.

Halbschuhtouristen? Haben in der Kälte der "Winterreise", in Wilhelm Müllers froststarrender, von Franz Schubert kongenial vertonter Welt, nichts verloren. Es bedarf Schuttings (83), um die schauerlich hechelnden Hunde neuerlich in die Schranken zu weisen; um wund fort zu stolpern ins ewige Eis.

Schutting gehört selbstverständlich zu den erprobtesten Flaneuren in der heimischen Dichtkunst. Jemand, der die schwer sichtbare Grenze zwischen Großstadt und Umland unmerklich passiert, der auch den Übertritt ins Reich der Überlieferung auf leisen Sohlen meistert.

Er hat seiner stupenden Neudichtung der "Winterreise" einen "Nachsommer" angehängt. Eine Auswahl unterschiedlichster Gedichte, mehr als 70 an der Zahl, fast jedes einem alten Meister (Homer, Goethe, Hölderlin) hinterdrein gesungen, aber eben auf unnachahmlich Schutting’sche Weise: in jenen weithin schwingenden Versen, in denen hell leuchtende Adjektive sich plötzlich als adverbiell gebrauchte Wörter entpuppen. Oder in denen nachgestellte Genitiv-Ketten – der durch Missachtung gestrafte zweite Fall Singular – reizende, nicht immer leicht entzifferbare Verdichtungen erzeugen. In Schuttings Kosmos werden Wörter besitzanzeigend gebraucht. Aber sie wechseln unausgesetzt ihre Partner.

Wunderliches Tier

Von der Krähe ("wunderliches Vogeltier") lässt der Lebensmüde sich zur nächsten Schenke geleiten. Doch der schauerliche Vogel krallt sich an seinen Lippen fest. Nicht genug damit: Er "watscht" ihn "ab", malträtiert die "von Tränen überhäuften Wangen". Der Eisflaneur folgt der Krähe, ihrem "lockenden Gekreische", mit zerhacktem Gesicht und ausgestochenen Augen blindlings ins Verderben.

Wie von Müller vorgeschrieben, hat Schutting 24 ("XXIV") Gedichte auf den Spuren des lange missachteten, höchstens belächelten Griechisch-Professors in Dessau verfasst. Allesamt Wegmarken auf einer todesmutigen Expedition, die weit hineinführt in die Bezirke von Lebensmüdigkeit und Wahnsinn.

Noch verblüffender sind die Freiheiten, die Schutting sich herausnimmt. Als unzeitgemäßer Vertreter der Hohen Minne heftet er an das Vokabular der Verzweiflung die Spuren eines untergründigen Geschehens: Die Liebe, ihr Wechselspiel von Aufschub und Versagung, sickert in die Winterlandschaft ein.

Das sprichwörtliche "kühle Bächlein" reißt plötzlich Ophelia mit sich, spült sie flussabwärts ins Schwarze Meer. Das in den Baum geritzte, "törichte" Herz wächst unmäßig gen Himmel. Diesen hat jedoch das "Abschiedswort" der Ungetreuen zerrissen. Der Dichter, ohnehin erblindet, fordert die ökologische Wahnsinnstat. Er begehrt, dass die Bäume allesamt geschlägert werden, weil das Herz "sich in allen / Baumrinden ja doch ins eigene Fleisch geschnitten hat". Zu Sägespänen gehört es gemacht. Nichts wächst ungestraft in den Himmel.

Walser im Schnee

Und ehe der Wanderer sich auf Winterreisig zur letzten Ruhe bettet, ist ihm von "wunden Hunden" der "tollwütig mir entflogene Hut" gleich mitentrissen worden. Das sich hierbei aufdrängende, weltberühmte Foto gehört einem anderen Untröstlichen an. Es zeigt den Schweizer Poeten Robert Walser: tot ausgestreckt im Winterschnee, aufgenommen 1956 in Herisau. Man sieht das tiefe Profil der Schuhsohlen. Der "tollwütig ihm entflohene Hut" liegt einen Meter vom Kopf entfernt. Ein "früh vergreiset Wanderbursch", der den Zumutungen der Welt mit feinen Manieren und widerspenstigen Texten begegnete.

Julian Schutting aber trinkt unaufhörlich vom Jungbrunnen der Poesie. Solchermaßen gestärkt, flaniert er weiter und schreibt die überzeugendste Lyrik dieser Tage. Tod und Unheil negiert er nicht. Doch er sticht die beiden aus. Schutting trachtet, wie alle Träumer, danach, seinen "Kummer Nacht für Nacht zu übernachten". (Ronald Pohl, 14.5.2021)