Hatte die Hoffnung, dass sich der Leser mit dem Flüchtling Schmul Leib Zwetschkenbaum solidarisiert: Albert Drach in einer Archivaufnahme aus dem Jahr 1993.

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Im Erstlingswerk der türkis-grünen Bundesregierung, dem Regierungsabkommen mit dem Titel Aus Verantwortung für Österreich, gibt es Sätze, die direkt aus einem der beißenden Protokolltexte des österreichischen Schriftstellers Albert Drach stammen könnten. Eines der dort formulierten Asylziele ist etwa die "Schaffung eines beschleunigten, modernen, grenznahen Asylantragsverfahrens im Binnen-Grenzkontrollbereich".

Ein Bürokratiesatz ist das, der sich richtiggehend über das bewegte Leben hermacht, es gleichzeitig draußen halten möchte ("Grenze") und doch mit ihm sprachlich verfahren muss. Was ist ein einerseits "grenznahes", andererseits im "Binnenbereich" stattfindendes Verfahren, das sich als solches ja notwendigerweise streckt, nun aber beschleunigt werden soll?

Was versteckt sich in der mehrfach überdeterminierten Verdachtszone zwischen "Binnen-" und "bereich"? Was lauert hinter dem Bindestrich als weiteres sprachliches Dazwischen-Zeichen?

In Albert Drachs Das Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum ist es die Aufgabe der Rechtsschrift, den Fremden – den osteuropäischen Kriegsflüchtling Schmul Leib Zwetschkenbaum – in Texträume zu bannen, ihn zu definieren, lesbar zu machen und letztlich auch ordnungsgemäß zu quälen. Wir wechseln hier von der kleinen Präposition "für" – "für Österreich" – zum "gegen" – "gegen Zwetschkenbaum" –, in der Textsorte vom Programm zum Protokoll.

Schriftmacht

Zentrales Mittel bleibt aber die Schrift. Zwetschkenbaum ist dem protokollführenden Gerichtsdiener vor allem deshalb verdächtig, weil er ganz allgemein "im Verruf" stünde, weil er singt und unter einem Zwetschkenbaum sitzend Verse rezitiert, dabei hin- und her wackelt. Vorgeworfen wird ihm Zwetschkendiebstahl und Vagabundage. Gegen ein solches nichtfixiertes Fremdelement, gegen Ruf und Rede des Juden Zwetschkenbaum, wird "Schriftmacht" und Rechtstext in Stellung gebracht.

Drachs Spezialgebiete sind die Landschaft der Provinz und die Vorstadt, die Walter Benjamin einmal als Ort des "Ausnahmezustandes" und als zutiefst politisiert bezeichnet hat: "Je weiter wir aus dem Innern (einer Stadt, Anm.) heraustreten, desto politischer wird die Atmosphäre." Einige der bekanntesten Drach-Texte spannen sich durch konstanten Aktenverkehr und eine ausufernde Amtskorrespondenz dorthin aus.

Sie versuchen dabei stets etwas festzuhalten, das im Text schwer festzuhalten ist: den flatternden Rock einer vergewaltigten und später des Mordes an ihrem Vergewaltiger angeklagten Frau in seiner Untersuchung an Mädeln oder eben den Fremden am Wegesrand Schmul Leib Zwetschkenbaum.

Drachs Texte sind darin immer auch eine Kartografie der Provinz. Sie schreiben eine Gewaltgeschichte des Politischen, die sich stets eine Ebene unter-, mit Kafka könnte man sagen, vor dem Gesetz abspielt.

Arrestwagen der Sprache

Sind es in der "Untersuchung" Lust und Voyeurismus, die die Rechtssprache antreiben, ist es im Fall Zwetschkenbaums der Körper des Flüchtlings, den das Recht sprachlich festhalten möchte und der einen regelrechten Rechts- und Sprachexzess provoziert. Es ist aber eine andere Form von Lust, die das Recht dem Flüchtling nachjagen lässt, und zwar die Mordlust.

Die Protokollsätze schreiben Leib Zwetschkenbaum auf fast 300 Seiten am Ort des vermuteten Urverbrechens, dem "pflanzlichen Zwetschkenbaum", also dem wirklichen Zwetschkenbaum, vorbei.

Der Arrestwagen der Sprache bindet Zwetschkenbaum über Protokollsätze an den besagten Obstbaum. Drach, aufgrund seiner jüdischen Herkunft selbst von den Nationalsozialisten verfolgt, verfasste seinen Zwetschkenbaum-Text zum großen Teil 1939 in Nizza.

Ob der "Tod am Strang", den er für seinen Hauptcharakter in den verlorengegangenen zwei Fortsetzungen vorgesehen hatte, auch an jenem Obstbaum exekutiert worden wäre? Drach wusste 1939 von der sich zuziehenden Bürokratieschlinge um den jüdischen Flüchtling.

Nur mit viel Glück überlebte er den Zweiten Weltkrieg in den französischen Alpen. Vorerst, also 1939/40, hatte auch die Flüchtlingsverwaltung noch ein politisches Begründungsproblem, und für den Tod am Strang braucht es mehr als bloße Sätze – ein echtes Seil.

Festhalte-Versuche

Der Habeas-Corpus-Akt des Rechts entwickelt sich in Drachs Erzählung immer mehr von einem "du sollst den Körper – den Schmul-Leib – bringen" zu einem "du sollst ihn umbringen". Aber auch wenn Narration und Mord langsam ineinanderblenden und das Protokoll Letzteren richtiggehend vorzuschlagen scheint, muss es sich vorerst noch mit Vorbereitungshandlungen begnügen. Dazu gehört das Festhalten des Flüchtlingskörpers mit sprachlichen Mitteln.

Teil dieser Festhalteversuche sind die verschiedenen Definitionsanstrengungen gegenüber dem Fremden. Die Rechtsphilosophin Cornelia Vismann argumentiert, dass die wesentliche Funktion von Protokollen ihr Wahrheitsanspruch sei und prägte die bündige Formel zum geschriebenen Recht: "Indem es schreibt, macht es wahr."

Zwetschkenbaum wird in der Erzählung immer wieder mit dem "zweifelhaften Schatten" in Verbindung gebracht, in dem er säße (den er als mit dem Obstbaum Namensverwandter aber gleichzeitig auch selbst wirft). Diesen Schatten gilt es pseudowissenschaftlich aufzuklären. Der Protokollant versucht eine solche Auflösung durch rassistisches Herumstochern in Zwetschkenbaums Genealogie, durch Besprechung seines Geisteszustands mittels eines gerichtspsychiatrischen Gutachtens und anderer kleinerer und größerer Gemeinheiten.

Buchstäblichkeit des Rechts

In der berühmtesten Schatten-Erzählung der Literaturgeschichte, in Adelbert von Chamissos Schlemihl-Märchen, ist dem Fremden über den Schatten ja noch eine gewisse Restsicherheit zugestanden. Verliert er erst diesen metaphysischen Schattenraum, dann ist er nur noch Körper – Fremdkörper – und in seinem Leben bedroht.

In zeitlicher Nähe zur Abfassung des Zwetschkenbaum-Protokolls schreibt auch Hannah Arendt, dass der Mensch an sich das Konkreteste und Ungleichste überhaupt sei, dass er gerade in seinem bloßen Menschsein am verwundbarsten und ungeschütztesten ist und er also auf die Schutzfunktion der Rechts-Maske oder eben des Rechts-Schattens angewiesen ist.

So sehr sich das Recht aber nun um Aufhellung des "zweifelhaften" Zwetschkenbaum-Schattens bemüht, es gelingt ihm doch nie ganz. Der Textkorpus kann auf den Korpus ohne Text, also den Körper des Zwetschkenbaums, nie wirklich zugreifen.

Dieser beginnt umgekehrt nun seinen Schatten in jenen zu werfen. In der "Buchstäblichkeit" des Rechts, von der auch Vismann spricht, lassen sich solche dunklen Flecken über das "ZW"-Zeichen nachweisen, das sich schon im Zwetschkenbaum-Namen verbirgt.

Im "ZW" finden wir die semiotisch-phonetischen Schattenstellen, hinter der der Leib-Zwetschkenbaum vermutet werden kann. Lexikalisch steht Zwetschkenbaums"Z. W." jedenfalls dort, wo unser Protagonist selbst zu finden ist: im Aktenarchiv der Sprache am Rand ebenjener, am Rande des Rechts und am Ende der alphabetischen Wort-Liste – kurz vor dem Herausfallen, kurz vor dem Hinausgedrängt-Werden. Gegen Zwetschkenbaum steht der "Zweifel", er wird als "Zwitter" verunglimpft, ihm wird ein "gefährlicher Zwiespalt" unterstellt.

Ins Protokoll verstrickt

Zwetschkenbaums Namen bezeichnete auch Albert Drach selbst einmal als "Stigma", über das Widerspruch erzeugt werden soll. Das Protokoll arbeitet konstant gegen Zwetschkenbaum und muss dabei jedoch seinen Namen immer wieder erneut aussprechen. Zwetschkenbaum! Zwetschkenbaum! Zwetschkenbaum!

Irgendwann macht sich darin auch ein hohnsprechendes "Ätsch", das sich im Namen verbirgt, hörbar. In Bezug auf den Leser aber hoffte Drach, dass sich dieser mit dem osteuropäischen Flüchtling Zwetschkenbaum solidarisiere im "Kampf mit seinem Gegenspieler, dem Protokoll, in das er verstrickt ist".

Von den heutigen Lesern diverser politischer Programme zur Eindämmung von Flüchtlingen kann man wiederum nur dasselbe erhoffen: Widerspruch. Oft wartet nämlich noch hinter dem zynischsten Bürokratie- und Banntext ein verwundbarer, schützenswerter Leib, auf den dieser zielt. (Thomas Wallerberger, 16.5.2021)