"Ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der alles, was uns an dunkle Seiten erinnert, ausgelöscht wurde", sagt Veronica Kaup-Hasler im StandART-Gespräch über das Thema Cancel Culture.

Foto: Der Standard

Kultur darf ab 19. Mai wieder stattfinden. In der Bundeshauptstadt hatte man lange zugewartet, aber jetzt soll es Schlag auf Schlag gehen: Nach "Wien sperrt auf" wird es erneut "Wien dreht auf" heißen. Denn Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) plant nach der Premiere im vorigen Pandemiesommer auch dieses Jahr ein Freiluft-Gratisfestival mit vielen kleinen Veranstaltungen in der ganzen Stadt. Wir trafen die Kulturpolitikerin im neuen temporären Kulturzentrum Brut Nordwest und sprachen mit ihr über Lehren aus der Krise, zu früh geimpfte Philharmoniker und das Karl-Lueger-Denkmal.

STANDARD: Wien hat sich lange Zeit gelassen, bis es bei den vom Bund ermöglichten Öffnungen mitgezogen ist. War da auch Theater dabei, um den Bundeskanzler schlecht aussehen zu lassen?

Kaup-Hasler: Im Gegenteil. Ich glaube, Populismus sieht anders aus. Denn fast alle Experten waren zu dem Zeitpunkt, als der Bundeskanzler Öffnungen angekündigt hat, sehr skeptisch, ob sich das ausgeht. Die Situation auf den Intensivstationen war noch sehr angespannt. Und da hat der Wiener Bürgermeister trotz des öffentlichen Drucks die Erwartungen gebremst. Es war eine schmerzliche, aber kluge Entscheidung.

STANDARD: Bei einer seiner Pressekonferenzen hat der Bürgermeister auf die zu öffnenden Museen vergessen. Haben Sie ihn schlecht gebrieft?

Kaup-Hasler: Ich habe ihn gar nicht gebrieft. Das tun schon seine eigenen Leute. Aber natürlich ist das auch mir aufgefallen und ich habe das dann sofort klargestellt. Es wäre unverständlich gewesen, wenn die Museen anders behandelt worden wären als der Handel.

STANDARD: In Madrid wurde schon seit Monaten wieder Theater gespielt. Mit gutem Sicherheitskonzept wäre das wohl auch hier möglich gewesen. Hätten Sie für frühere Öffnungen plädiert?

Kaup-Hasler: Das habe ich natürlich immer, aber rückblickend gab es unterschiedliche Phasen: Es nützt nichts, auch wenn das Herz für die Kultur so groß ist, Öffnungen gegen die Vernunft unbedingt durchzuboxen. Vor dem Auftreten der britischen Mutation war ich mir sicher, dass die Konzepte ausreichen, dann wurde die Sache schwieriger. Es war dann richtig, noch mal die Zähne zusammenzubeißen und durchzutauchen. Der Wiener Leitfaden für Kulturveranstaltungen ist sehr gut, er wurde übersetzt und weltweit angewandt und zuletzt noch mal verbessert, sodass Kultur jetzt, glaube ich, ein absolut sicherer Ort ist.

STANDARD: Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer hat im STANDARD-Interview gesagt, die Kultur sei ohne große Schäden durch die Krise gekommen. Sehen Sie das auch so?

Kaup-Hasler: Ich hoffe es. Sowohl im Bund als auch in der Stadt haben wir sehr viel getan, damit die Szene möglichst unbeschadet durch die Krise kommt. Das Geflecht der vielen Fördertöpfe, das der Bund aufgestellt hat und das ohne Steuerberater überhaupt nicht zu durchschauen war, ist sukzessive durch konstruktive Kritik ein gut anwendbares geworden. Wir werden aber erst im Nachklang sehen, wie viele Kunstschaffende und Betriebe noch Unterstützung brauchen werden. Wahrscheinlich sind es vor allem die, die stark einnahmenseitig wirtschaften und besonders unter Druck geraten sind.

STANDARD: Eine Studie besagt, dass EU-weit 200 Milliarden Euro Verlust allein in der Kulturbranche entstanden sind. Wie reparieren Sie das? Das ist ja ein Totalschaden.

Kaup-Hasler: Corona hat gezeigt, wie vulnerabel und prekär in der Kultur gearbeitet wird. Schon vor der Krise haben wir unter dem Motto "Repair and Care" begonnen, Kulturbetriebe resilienter zu machen. Zusätzlich zu einem massiv erhöhten Kulturbudget haben wir 23,3 Millionen Euro für Corona-Maßnahmen allein in Wien zur Verfügung gestellt. Damit unterscheiden wir uns von anderen Städten. München etwa hat mit Kürzungen reagiert.

STANDARD: Irgendwann wird man den Corona-Schuldenberg aber wohl auch hier abtragen wollen. Kommen dann die Einschnitte?

Kaup-Hasler: Diese Gefahr besteht, wenn wir das große Ziel einer starken EU aus den Augen verlieren. Wir brauchen zum Beispiel eine gemeinsame Steuerpolitik. Wir sollten die wirklich großen Gewinner dieser Corona-Krise, die es ja auch gibt, und die Steuerflüchtlinge, durch die uns rund eine Billion Euro im Jahr verlorengeht, zur Kasse bitten. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit: Wie kommen wir an das Geld heran, das uns jahrzehntelang durch Großkonzerne und Vermögende entzogen wurde? Auf städtischer Ebene werden wir das nicht lösen.

STANDARD: Aus der Corona-Not geboren wurde im letzten Sommer das Gratisfestival "Wien dreht auf" mit kleinen Veranstaltungen im ganzen Stadtgebiet. Heuer soll das noch mal größer werden. Das ist ja auch nicht billig.

Kaup-Hasler: Stimmt, wir haben das Budget des Kultursommers noch mal erhöht auf sechs Millionen Euro. Das Angebot wird aber auch bedeutend erweitert: 41 Locations, stärkerer Fokus auf Altersheime und Kinder- und Jugendkultur, weil wir wissen, dass gerade diese Bevölkerungsgruppen im letzten Jahr besonders von den Einschränkungen betroffen waren. Die Idee ist auch entstanden, weil es viele Menschen gibt, die derzeit arbeitslos oder existenziell geplagt sind, und da ist der Kultursommer eine Geste an die Bevölkerung, die Freude machen soll. Es geht um Teilhabe. In Hamburg wurde das jetzt 1:1 übernommen, auch New York macht so etwas.

STANDARD: Wollen Sie es langfristig etablieren?

Kaup-Hasler: Ich halte das Modell schon für zukunftsfähig, aber wir werden erst nach der Krise evaluieren, ob wir es nächsten Sommer wieder machen können und ob wir es überhaupt brauchen. Denn es soll ja auch keine Überfülle entstehen, die dann nicht angenommen wird.

STANDARD: Auch das Gratisevent Popfest soll es wieder geben, in der Arena. Die Wiener Festwochen finden auch statt. Haben Sie im letzten Jahr durch die Absagen Subventionen gespart, die nun zum Einsatz kommen?

Kaup-Hasler: Ja, natürlich. Die Festwochen sind ein gutes Beispiel, sie zahlen 1,8 Mio. Euro zurück, die wir dringend woanders brauchen können. Wir wissen aber auch, dass wir sicherlich noch länger bei vielen Institutionen Geld zuschießen müssen, solange die Krise noch nicht vorüber ist.

STANDARD: Am härtesten trifft es nach wie vor die Clubs, die Nachtgastronomie. Wie helfen Sie denen?

Kaup-Hasler: Da haben wir ein großes Paket geschnürt, drei Millionen Euro, das gibt es sonst nirgendwo. Wir haben eine eigene Clubschiene beim "Kultursommer" im Programm. Natürlich sind wir da abhängig von den Ausgangsbeschränkungen. Wir wären froh, wenn der Bund im Sommer noch die Sperrstunde verlängern würde.

STANDARD: Wie der "Falter" berichtete, wird aber zum Beispiel dem Club Flex seit Monaten eine Bewilligung für Freiluftveranstaltungen vor dem Lokal vorenthalten, die früher ohne Probleme ausgestellt wurde. Schuld ist eine Verschärfung der Bestimmungen, die unabhängig von Corona erfolgt ist. Wie können Sie da helfen?

Kaup-Hasler: Davon wusste ich bis jetzt nichts. Und ich bin auch nicht für Genehmigungen zuständig. Aber sobald ich das vorliegen habe, werde ich mich als Brückenbauerin gerne helfend einschalten.

STANDARD: Sollte die Stadt nicht generell mehr Freiluftflächen für sichere Ravepartys zur Verfügung stellen? Man nimmt damit auch illegalen Partys den Wind aus den Segeln.

Kaup-Hasler: Beim Kultursommer haben wir genau deswegen jetzt einmal einen solchen Ort geplant. Das ist natürlich nicht ausreichend, das ist uns klar. Wichtig ist eine gute Abstimmung mit den Nachbarschaften, weil es oft um Lärmbelästigung geht. Daher haben wir die Vienna Club Commission als vermittelnde Institution gegründet. Sie ist eine Anlaufstelle für alle Beteiligten und bietet umfassende Services. Das Pilotprojekt wurde verlängert und wird dann final verankert.

STANDARD: Für großes Unverständnis hat gesorgt, dass die Wiener Philharmoniker bei der Corona-Schutzimpfung vorgezogen wurden. War das nicht ein Schlag ins Gesicht aller Künstler, die noch warten müssen?

Kaup-Hasler: Ich verstehe jedenfalls, dass es so empfunden wurde. Ich habe es auch nicht entschieden. Als ich von den Philharmonikern angerufen wurde, habe ich gesagt, dass ich es für einen unglücklichen Moment halte, hier vorpreschen zu wollen. Sie haben sich dann direkt an den Gesundheitsstadtrat Peter Hacker gewandt. Für ihn war das Thema im Verhältnis zu allen Dingen, die er derzeit zu bewältigen hat, nicht so relevant. Er wollte es möglich machen. Es war sicher kein gutes Zeichen und problematisch zu diesem Zeitpunkt, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht in eine Neiddebatte verfallen. Wir sollten schauen, dass wir jetzt möglichst schnell alle zu einer Impfung bringen.

STANDARD: War nicht der eigentliche Skandal, dass man es unter der Decke halten wollte, anstatt offen zu sagen, dass man die Philharmoniker vorzieht, weil man sie für so wichtig hält?

Kaup-Hasler: Also nein, in der Stadtregierung war das kein politisches Thema. Die Wiener Philharmoniker haben sich direkt an das Gesundheitsamt gewandt mit der Begründung, dass sie einen Vertrag für ein wichtiges Konzert in Mailand haben und dort nur geimpft hinreisen dürfen. Sosehr ich die Philharmoniker schätze: Aus dieser Ausnahme ist keine politische Haltung unsererseits abzuleiten.

STANDARD: Eine größere politische Debatte ist die ums Karl-Lueger-Denkmal. Eine zivilgesellschaftlich formierte Expertenkommission empfiehlt, die Statue vom Sockel zu holen. Sie waren zuletzt gegen derart große Eingriffe. Warum?

Kaup-Hasler: Zunächst finde ich jede Debatte interessant, auch die aktuelle Beschmierung, weil sie etwas zeigt. Sie macht einen Bruch mit einem Denkmal, das zu hinterfragen ist, deutlich. Offenbar reicht eine Zusatztafel nicht mehr aus. Deswegen habe ich eine große Expertenrunde eingeladen, das zu debattieren. Es gibt viele aus der konservativen Ecke, die es so belassen wollen, wie es ist. Und es gibt welche, die eine komplette Cancel Culture, also Entfernung, fordern. Ich persönlich finde die Konsequenz einer Cancel Culture immer problematisch. Denn unsere Geschichte ist auch schmutzig. Ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der alles, was uns an die dunklen Seiten erinnert, ausgelöscht wurde. Dann sind wir in einer cleanen, antiseptischen Stadt, geschichtslos. Gleichzeitig will ich aber endlich alle historisch problematischen Straßennamen in der Stadt mit Zusatztafeln kontextualisieren. Denn darin sehe ich einen Bildungsauftrag.

(INTERVIEW: Stefan Weiss, 15.5.2021)