Wann der Koalitionspartner die Stopptaste drücken müsse, sagt der ehemalige grüne Nationalratsabgeordnete Harald Walser im Gastkommentar.

Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz wegen Falschaussage im U-Ausschuss.
Foto: Robert Newald

Die Grünen standen seit ihrer Gründung für Sauberkeit und Anstand in der Politik sowie die lückenlose Aufklärung von Skandalen. In der Vergangenheit hat man diesbezüglich auch geliefert. Legendär, wie Gabi Moser, Werner Kogler oder Peter Pilz dafür gekämpft haben – in der Buwog-Affäre, drei Eurofighter-U-Ausschüssen, der Affäre um die Telekom Austria, bei der Lockerung des Glücksspielmonopols, verkauften Staatsbürgerschaften, illegaler Parteienfinanzierung, Geldwäsche, der Blaulichtfunk-Beschaffung. Die Grünen waren federführend an Aufdeckung und Aufklärung dieser Skandale beteiligt, standen für Transparenz und Korruptionsbekämpfung.

Auf den Spuren Machiavellis

Sebastian Kurz orientiert sich an anderen Werten. Er dürfte Niccolò Machiavelli gelesen haben. Der hat vor einem halben Jahrtausend geschrieben, dass zur Erlangung und zur Erhaltung von politischer Macht jedes Mittel erlaubt sei – unabhängig von Recht und Moral. Daher ist es für ihn auch kein Problem, wenn gegen ihn ermittelt wird. Kein Problem, wenn er angeklagt wird. Und auch kein Problem, wenn er verurteilt werden sollte – wie er in der ZiB 2 offenherzig gestanden hat. Der von mir geschätzte ehemalige ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner hat in seinem Buch Haltung beschrieben, wie er vom jungen Machtmenschen und seinem Anhang systematisch demontiert worden ist. Wirklich überraschend ist es daher nicht, dass für Kurz Ermittlungen gegen ihn und seine engsten Vertrauten kein Problem sind.

Die türkise Skandalliste ist lang: Kabinettschef Bernhard Bonelli, Finanzminister Gernot Blümel, Ex-Parteiobmann Josef Pröll, die Ex-Minister Hartwig Löger und Wolfgang Brandstetter, die ehemalige stellvertretende Parteiobfrau Bettina Glatz-Kremsner, Raiffeisen-Boss Walter Rothensteiner, Sektionschef Christian Pilnacek ... Wen habe ich vergessen? Kann das alles noch akzeptiert werden? In der ÖVP offensichtlich schon. Aber bei den Grünen? Müssen sie als staatstragende Partei in der jetzigen schwierigen Situation wirklich weiterhin gute Miene zum korrupten Spiel machen?

Oder doch Max Weber?

Der deutsche Soziologe Max Weber hat das jetzige grüne Dilemma schon vor über einem Jahrhundert beschrieben: Man kann gesinnungsethisch sauber bleiben, immer das Wahre, Gute und Schöne fordern und sich die Hände nicht schmutzig machen. Die Gesellschaft verändern und erfolgreich Politik betreiben aber kann man so nicht. Er hat daher für eine Verantwortungsethik plädiert: Demnach muss man in der Politik immer auch die Folgen des eigenen Handelns beachten und öfter mal einen "Umweg" machen, also Realpolitik betreiben.

Die Frage ist also: Kann man einen auf 58 Seiten exakt belegten Verdacht der Staatsanwaltschaft gegen den Kanzler, dieser habe mit mehreren Falschaussagen im U-Ausschuss eine mit bis zu drei Jahren Haft bedrohte Straftat begangen, ignorieren? Der U-Ausschuss hat ja zudem penibel aufgedeckt, wie die türkise Günstlingswirtschaft in den letzten Jahren funktioniert hat, welch schmutzige Deals mit dem früheren Koalitionspartner ausgeheckt und zum Schaden der Republik durchgezogen wurden.

Arrogantes Auftreten

Gesinnungsethisch ist klar, dass die türkise Führungsriege wesentliche Werte unserer Demokratie nicht teilt und sie sogar verachtet. Das arrogante parlament- sowie demokratieverachtende Auftreten der Herren Blümel und Kurz im Ausschuss hat deren zweifelhaftes Verhältnis zu Grundwerten wie Gewaltenteilung und Parlamentarismus auch für eine breitere Öffentlichkeit deutlich gemacht. Dennoch muss ein Misstrauensantrag gegen den Kanzler zum jetzigen Zeitpunkt nicht zwingend unterstützt werden. Neuwahlen und eine mögliche ÖVP-FPÖ-Koalition würden Österreich politisch so nahe an Ungarn heranrücken lassen, wie es geografisch schon ist. Eine verantwortungsethische Überlegung eben. Man stelle sich statt Alma Zadić den FPÖ-Rechtsaußen Harald Stefan, bis 2018 bekennendes Mitglied der rechtsextremen Burschenschaft Olympia, als Justizminister vor! Oder nochmals Herbert Kickl im Innenministerium?

Stopptaste drücken?

Möglich ist eine türkis-blaue Retrokoalition trotz aller Skandale von ÖVP und – nicht zu vergessen – FPÖ, denn die von Kurz betriebene üppige Fütterung des Krawallboulevards könnte in den entscheidenden zwei Wochen vor einer möglichen Neuwahl wieder den gewünschten Effekt erzielen. Irgendwann muss allerdings die Stopptaste gedrückt werden. Man kann mit guten Argumenten der Ansicht sein, dass dieser Fall schon eingetreten ist, wenn gegen einen Kanzler ein offizielles Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Man muss (!) allerdings dieser Ansicht sein, wenn es zu einer Anklageerhebung kommt.

"Es fehlt an Respekt gegenüber demokratischen und rechtlichen Institutionen." Ex-ÖVP-Chef und Ex-Kanzler Reinhold Mitterlehner in der Süddeutschen Zeitung. Er rät Kurz, bei einer Anklage sein Amt ruhen zu lassen.

Verantwortungsbewusste Politik bedeutet nicht, die türkise Skandaltruppe und ihren vermeintlichen Wunderwuzzi unter allen Umständen im Amt zu halten. Ein Bundeskanzler als Angeklagter vor einem Gericht würde nicht nur dem Ansehen der Grünen immensen Schaden zufügen, sondern auch dem jetzt schon ramponierten Ansehen der Politik als Ganzes. Zudem ist ein für Kurz positiver Ausgang von Neuwahlen nicht in Stein gemeißelt. Die Vorfälle der letzten Jahre veranlassen wohl auch etliche "Bürgerliche", nächstes Mal das Thema "politischer Anstand" in ihre Wahlentscheidung einfließen zu lassen.

Die Grünen werden sich wohl demnächst entscheiden müssen. Bei einer Anklageerhebung ist aus meiner Sicht eines klar: Die rote Linie ist überschritten. Spätestens dann ist der Kanzler in seinem Amt nicht mehr tragbar. (Harald Walser, 15.5.2021)