Ein weiterer möglicher "Rettungsanker" für Kurz wäre die Berufung auf einen sogenannten Aussagenotstand.

Foto: Robert Newald

Er habe den "Vorsatz" gehabt, im U-Ausschuss "wahrheitsgemäß zu antworten", betont Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) laufend seit Mittwochfrüh. Abgesehen von dem Argument, dass seine Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen wurden, ist die Berufung auf den fehlenden Vorsatz Kurz’ zentrale Verteidigungsstrategie.

Das liegt wohl daran, dass die Ungereimtheiten zwischen den Aussagen im U-Ausschuss und den Chatnachrichten von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gut dokumentiert wurden. In einem möglichen Prozess käme auch die Berufung auf einen Aussagenotstand infrage. Für Kurz gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung.

Bedingter Vorsatz

Dass sich ein Beschuldigter darauf beruft, keinen Vorsatz für eine bestimmtes Delikt gehabt zu haben, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Bei fast jedem Prozess geht es letztlich um die Frage, ob ein mutmaßlicher Täter auch vorsätzlich gehandelt hat. Man spricht dann vom "subjektiven Tatbestand", der erfüllt sein muss. Es stellt sich also die Frage, was sich der Beschuldigte bei seiner Handlung selbst gedacht hat.

Bei den meisten Delikten ist nicht notwendig, dass der Angeklagte sie verwirklichen "wollte", sondern es reicht, wenn er es "ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand", eine Straftat zu begehen. Auch beim Delikt der falschen Beweisaussage reicht dieser sogenannte bedingte Vorsatz. Die Abgrenzung zur bloßen Fahrlässigkeit ist in der Praxis schwierig.

Katharina Beclin, Professorin für Kriminologie an der Universität Wien, erklärt es so: "Fährt jemand mit überhöhter Geschwindigkeit auf einer schmalen, engen Straße, sodass er Radfahrer gefährden könnte, handelt er objektiv fahrlässig." Die Fahrlässigkeit läge auch dann noch vor, wenn dem Autofahrer das Risiko bewusst ist, er aber darauf vertraut, dass er Glück hat oder ausweichen könnte.

"Wenn dem Autofahrer aber egal ist, ob er jemanden niederfährt, er sich also damit abfindet, dann handelt er vorsätzlich." Hätte sich Kurz etwa gedacht: "Ich halte es ernstlich für möglich, dass meine Aussage falsch ist, aber ich finde mich damit ab, den Abgeordneten die Unwahrheit zu sagen", läge ein bedingter Vorsatz vor.

Beweisbarkeit

Ein Beweis dafür, was im Kopf eines mutmaßlichen Täters genau vorging, ist praktisch unmöglich. Legt der Beschuldigte oder der Angeklagte ein Geständnis ab, erübrigt sich dieser Nachweis. In allen anderen Fällen wird der Vorsatz von den Tatsachen, die objektiv festgestellt werden können, oder aus Aussagen von Zeuginnen oder Zeugen abgeleitet, sagt Beclin im Gespräch mit dem STANDARD.

Gibt es etwa ein Video, das zeigt, dass eine Person einen Gegenstand aus einem Supermarkt entwendet, ist objektiv gesehen der Tatbestand des Diebstahls erfüllt. Ob die Person den Vorsatz gehabt hat, den Gegenstand tatsächlich zu stehlen, oder sich die Sache nur ausborgen wollte, wäre allerdings nicht ersichtlich.

Eine Richterin würde im Rahmen der Beweiswürdigung aufgrund des Videos aber darauf schließen, dass ein Vorsatz auf den Diebstahl gegeben war. Die Ausrede, dass sich die Person die Sache nur ausleihen wollte, würde ein Gericht wohl kaum gelten lassen.

Abwägungsfrage

Je stärker der objektive Beweis für das "äußere Geschehen" ist, desto eher wird ein Gericht daher zum Schluss kommen, dass ein Vorsatz vorliegt. Im konkreten Fall wird es darauf ankommen, wie deutlich die Staatsanwaltschaft die mutmaßlichen Widersprüche zwischen Kurz’ Aussagen im U-Ausschuss und den Chatprotokollen darlegt. Je stärker die Abweichungen, desto schwieriger wird die Argumentation für den Kanzler.

In einer möglichen Beweiswürdigung durch das Gericht würden natürlich auch andere Argumente eine Rolle spielen: etwa dass ein Bundeskanzler zig Gespräche pro Tag führt und sich wohl kaum an jedes Detail erinnern kann. Kurz stützt sich in seiner Argumentation auch auf die schwierige Befragungssituation im U-Ausschuss, die Missverständnisse provozierte.

So erklärte er in der ZiB 2, dass die Opposition mit Unterstellungen und Zwischenrufen bewusst eine aufgeheizte Stimmung erzeugt habe. "Dann im Nachhinein wird jedes kleinste Detail, jede semantische Feinheit dazu genutzt, um eine Falschaussage zu kreieren."

Im Fall der falschen Beweisaussage kommt die Schwierigkeit dazu, dass Sachverhalte, die in der Vergangenheit liegen, von jedem Menschen anders wahrgenommen werden.

Aussagenotstand

Ein weiterer möglicher "Rettungsanker" für Kurz wäre die Berufung auf einen sogenannten Aussagenotstand. Aussagen im U-Ausschuss unterliegen grundsätzlich der Wahrheitspflicht. Auskunftspersonen müssen allerdings dann nicht aussagen, wenn sie sich durch die Beantwortung einer Frage selbst oder Angehörige belasten würden oder ein bedeutender vermögensrechtlicher Nachteil droht.

Da auch schon durch eine Aussageverweigerung der Eindruck entstehen könnte, dass die Auskunftsperson etwas zu verbergen hat, können Falschaussagen in dieser Konstellation entschuldigt sein. Kurzum: Wer Sorge hat, sich durch eine Aussage selbst zu belasten, darf unter Umständen lügen.

Erleichterung im Ausschuss

Für Personen, "gegen die sich die Untersuchung des Ausschusses richtet", sieht das Gesetz eine zusätzliche Erleichterung vor. Es genügt die Absicht der Auskunftsperson, die mögliche Gefahr von strafrechtlichen Konsequenzen zu verhindern. Weitere Voraussetzungen – etwa dass die Auskunftsperson gewusst hat, dass sie die Aussage verweigern hätte können – müssen nicht vorliegen.

Unter Umständen kann auch "drohende Schande" als Entschuldigung für eine Falschaussage ausreichen – allerdings nur dann, wenn die Person aus anderen in der Verfahrensordnung angeführten Gründen das Recht hätte, die Aussage zu verweigern. Stützen sich Auskunftspersonen auf eine "drohende Schande", gelten daher strengere Voraussetzungen.

Bisher hat sich Kurz nicht auf einen Aussagenotstand berufen – schließlich müsste er dafür zugeben, dass er fürchtete, sich selbst zu belasten. Auch im Interview in der ZiB 2 erklärte der Kanzler, dass es keinen Grund gegeben hätte, im U-Ausschuss falsch auszusagen: "Wieso hätte ich das tun sollen? Das wäre ja widersinnig gewesen."

Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Verteidigungsstrategie des Kanzlers im Falle eines Prozesses noch ändern könnte. Das Gericht müsste einen möglichen Aussagenotstand abgesehen davon auch von Amts wegen prüfen. Wie glaubwürdig die Berufung auf den Entschuldigungsgrund trotz seiner Aussagen im ZiB 2-Interview wäre, müsste letztlich die zuständige Richterin oder der zuständige Richter entscheiden. (Jakob Pflügl, 15.5.2021)