Der Hauptdarsteller des Ibiza-Videos.

Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Heute Abend machen meine Frau und ich eine Flasche Sekt auf. Wir feiern weder Hochzeitstag, noch sind wir pandemiebedingt zu Dauertrinkern geworden. Nein, wir stoßen auf den zweiten Jahrestag der Veröffentlichung des Ibiza-Videos an.

Ich befürchte nämlich, dass von Türkis-Blau in der kollektiven Erinnerung des Landes bald nicht mehr übrig bleibt als ein paar Anekdoten über Polizeipferde, den Hofknicks vor Wladimir Putin und die dreckigen Zehennägel einer falschen Oligarchin. Diesen Tendenzen der ach so österreichischen Verharmlosung halten wir entgegen. Feiern auch Sie heute mit, und stoßen Sie auf die Rettung unserer Demokratie an! Vielleicht findet sich jemand, der die ominöse Villa auf Ibiza kauft und zu einem Korruptionsmuseum konvertiert. Den Drahtziehern des Ibiza-Videos, allen voran dem ehemaligen Bodyguard von H.-C. Strache, könnten wir aus Dankbarkeit ein Denkmal errichten und dieses wie im 19. Jahrhundert durch öffentliche "Subskription" finanzieren. Um die Abwicklung sollte sich, wie damals, ein Komitee kümmern; vielleicht übernehmen die Dichands ja dessen Ehrenvorsitz.

Unabhängige Medien gefügig machen

Aber Spaß beiseite: Was wäre passiert, wenn Türkis-Blau noch Jahre, womöglich zwei Legislaturperioden, regiert hätte? Die Versuche, unabhängige Medien gefügig zu machen und den ORF zu schwächen, hätten zugenommen. Die Anbiederung an Viktor Orbán und andere Autokraten wäre heute noch Programm, ebenso wie gezielte Angriffe auf zivilgesellschaftliche Organisationen. Einem totgesparten Justizapparat würde die Untersuchung korrupter Machenschaften schwerfallen, Rechtsextreme würden weiter den Verfassungsschutz unterwandern. Ob am Ende die Institutionen und die Bürgerinnen und Bürger des Landes widerstandsfähig genug gewesen wären, um unseren Rechtsstaat zu schützen, weiß ich nicht. Die Türkisen hätten dem Treiben der Blauen sicher nicht Einhalt geboten.

Österreich hat Glück gehabt

Österreich hat am 17. Mai 2019 Glück gehabt und unsere Demokratie eine Atempause bekommen. Doch das ist kein Grund für falsche Überheblichkeit. Es ist an der Zeit, zu hinterfragen, ob die Stärke der Antidemokraten überall in Europa womöglich von der Schwäche der liberalen Demokraten herrührt. Anstatt mit Mitleid oder Verachtung auf die rechte Wählerschaft oder nun die "Covidioten" herabzublicken, täte Selbstkritik gut.

Viele Leute, vor allem jene, die mit Armut und sozialem Abstieg zu kämpfen haben, fühlen sich seit Jahren nicht mehr repräsentiert. Die meinungsbildende "Lifestyle-Linke", die Sahra Wagenknecht so treffend in ihrem neuen Buch beschreibt, sorgt sich mehr um das Moralisieren als um die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Über ethisches Konsumverhalten und politisch korrekte Sprachregelungen zeigen linksliberale Eliten, dass sie etwas Besseres sind. Wer Zweifel an liberaler Einwanderungspolitik oder Gendersternchen hat, wird von manchen sofort ins rechte Eck gestellt. Das prominente Mitglied der deutschen Linkspartei hat recht: Solange soziale und politökonomische Probleme nicht im Mittelpunkt progressiver Politik stehen, wird rechts immer eine Chance haben, auch in unserem Land. (Philippe Narval, 17.5.2021)