Foto: Mass Effect LE
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Man kann es gleich am Anfang schreiben: Ja, wer sich für Rollenspiele interessiert und Mass Effect noch nie gespielt hat, sollte unbedingt zugreifen und mit der soeben erschienenen "Legendary Edition" diese Bildungslücke jetzt endlich schließen. Um dieses Erlebnis sind Neulinge ein wenig zu beneiden: Das unumstritten größte SF-Epos im Medium zum allerersten Mal zu erleben, und das noch dazu rundumerneuert, am Stück, ganz ohne mehrjährige Zwangspausen zwischen den einzelnen Teilen, ist ein Privileg.

Die Komplettausgabe der Mass Effect-Trilogie inklusive allen DLCs bietet dreimal bombastische Weltraumoper, grafisch und in Details spielerisch modernisiert, eine epische Geschichte voller fantastischer, bei Fans längst ikonisch gewordener Figuren, in der die Entscheidungen der Spielerinnen und Spieler Gewicht haben. Die kanadischen Rollenspielspezialisten von Bioware brachten zwischen 2007 und 2012 in drei Teilen die Geschichte von Commander Shepard auf die Bildschirme; die darauffolgenden weiteren SF-Titel des legendären Entwicklers, Mass Effect Andromeda und Anthem, fielen hingegen gnadenlos durch.

Mass Effect

Epischer Kampf gegen den Untergang

Die Kurzzusammenfassung für neugierige Ahnungslose: In Mass Effect steuern wir unsere nach Wahl männliche oder weibliche Hauptfigur Commander Shepard durch eine Sci-Fi-Welt der fernen Zukunft. Die Menschheit hat sich eben erst einer intergalaktischen Vereinigung unzähliger Alien-Zivilisationen angeschlossen, als plötzlich eine kosmische Bedrohung in Form der alles vernichtenden Reaper auftaucht.

Als militärischer Super-Agent liegt das Schicksal des Universums in unseren Händen; gemeinsam mit einer zusammengewürfelten Crew aus charismatischen Mitstreitern unterschiedlichster Alien-Spezies verbringt man eine sicher dreistellige Spielstundenanzahl damit, das Universum zu bereisen, Missionen auf exotischen Planeten zu erfüllen, mit unzähligen Figuren komplexe Dialoge zu führen und mit allerlei Schusswaffen gegen verschiedenste Bösewichte anzutreten. Die actionlastigen Kämpfe finden in (pausierbarer) Echtzeit und mit der Unterstützung durch jeweils zwei KI-Teamkollegen statt.

Zentral ist und bleibt die Story, die in filmischen Cutscenes und vor allem vielen Dialogen erzählt wird: Die wendungsreiche, epische Geschichte bietet neben der großen Haupthandlung jede Menge packende Seitenstränge mit zum Teil unvergesslichen Momenten. Die Entscheidungsfreiheit, sich als weißwestiger Held des Guten oder aber als grimmiger, sogar bösartiger Machiavellist durchs Universum zu bewegen, macht nach wie vor den faszinierenden Kern dieses Rollenspiels aus. Dass Spielerentscheidungen Gewicht haben und zum Teil durch alle drei Teile der Serie durchschlagen, ist ein klassisches Alleinstellungsmerkmal der Weltraumoper.

Die "Legendary Edition" hält als recht klassisches Remaster den Kern der Originale absolut intakt und begnügt sich großteils mit äußerlichen Behübschungen; vor allem dem inzwischen stolze 14 Jahre alten ersten Teil hat diese Frischzellenkur gut getan. Der erste Serienteil profitiert aber auch von willkommenen Anpassungen der Spielmechaniken und des User-Interfaces an die zwei weiteren Serienteile, und auch die legendär grottige Fahrphysik des Bodenfahrzeugs Mako bei Planetenausflügen wurde verbessert. Dass die Kameraeinstellungen in manchen Szenen auf moderne Sensibilitäten Rücksicht nehmen und etwa nicht mehr wie im Original plump die Rundungen der weiblichen Figuren ausdrücklich ins Zentrum rücken, ist ein Inszenierungsunterschied, der nur besonders originalversessenen Puristen auffallen wird.

Was ist gelungen?

Mass Effect ist Kult, und das durchaus zu Recht. Die dreifache Megapackung der gesamten Trilogie in der "Legendary Edition" bietet das wohl umfangreichste Rollenspielerlebnis des Jahres; der Reiz, die gesamte Story am Stück erleben zu können, wird auch jene anlocken, die damals bereits die Originale gespielt haben und die Erinnerung bestmöglich mit einem zweiten Durchlauf auffrischen wollen.

Die behutsam verbesserten Spielmechaniken und die grafischen Anpassungen machen die "Legendary Edition" zur unbestritten ultimativen Version einer außergewöhnlichen Rollenspiellegende.

Was ist weniger gelungen?

Auch wenn es manchen wie Majestätsbeleidigung erscheinen wird: Mit dem Abstand einiger Jahre lässt sich nüchtern feststellen, dass auch heißgeliebte Kultspiele – vor allem mit heutigen Augen betrachtet – nicht so makellos sind, wie sie nostalgiebedingt erscheinen. Die eineinhalb Jahrzehnte, die seit dem Erscheinen des ersten Teils vergangen sind, haben nicht nur einen kritischeren Blick auf eventuellen Sexismus, sondern auf das Politische der Fiktion allgemein mit sich gebracht.

So sehr sich Mass Effect bemüht, moralische Dilemmata in allen Grauschattierungen zu zeigen, so sehr auch wirklich heikle Themen wie Völkermord und Kolonialismus angesprochen werden: Letztlich spielt man auch hier den Super-Soldaten, dessen Wahl egal wie rabiater Mittel durch den guten Zweck geheiligt wird – wenn man so will ein durchgehendes Thema vieler westlicher Action-Blockbuster nach dem Schock von 9/11. Seine Welt mag im Unterschied zu früheren SF-Großwerken nicht den Menschen und sein vorherbestimmtes Schicksal ins Zentrum stellen, wie manche Kritiker anlässlich des Endes der Trilogie begeistert vermerkten, und trotzdem liegt es – natürlich – einzig in der Hand der menschlichen Hauptfigur, über den Fortbestand der ganzen Galaxis, aber auch über das Schicksal ganzer Alien-Rassen zu bestimmen.

Klassische Themen von Weltraumoper und Videospielheldengeschichten gleichermaßen, könnte man sagen – dass es auch differenzierter geht, haben andere Spiele seitdem unter Beweis gestellt. Auch in der letztlich doch nur wenig reflektierten Auswahlmöglichkeit zwischen "gutem" Paragon- und "bösem" Renegaten-Shepard zeigt Mass Effect am deutlichsten sein Alter. Wer als Rollenspiel-Fan die meisterhafte Differenzierung komplexer Figuren etwa eines Disco Elysium erlebt hat, wird in Commander Shepard nie mehr als einen holzschnittartigen Charakter sehen können.

Ganz abgesehen von derart fundamentaler und letztlich spitzfindiger inhaltlicher Kritik bleiben auch robustere Maluspunkte, die allerdings den Spaß am Spiel ebenso wenig verderben können: Die Grafik ist trotz zeitgemäßer Behübschung nach heutigen Maßstäben kaum mehr als solides Mittelmaß, vor allem die Gesichtsanimationen bleiben aber weit hinter aktuellen Spielen zurück. Die Kämpfe sind auf dem Standard-Schwierigkeitsgrad ebenso banal wie mechanisch mäßig interessant, Inventory und Menüsystem noch immer umständlich. Die spielmechanische Kluft zwischen Teil eins und den beiden folgenden Teilen wird durch die unmittelbare Nähe der drei Titel hier noch zusätzlich augenscheinlich.

Fazit

Man möge sich durch die vorhergehende lange Liste an kleinen Makeln und Altersspuren nicht abschrecken lassen: Mass Effect: Legendary Edition ist auf jeden Fall trotzdem die ultimative Version eines völlig zu Recht legendären Kultrollenspiels. Für interessierte Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger in diese Welt gilt unbedingte Kaufempfehlung; wer die Originale bereits kennt und sie am Stück noch einmal erleben will, hat mit dieser Neuauflage eine solide Version, die sich erfolgreich bemüht, alle drei Teile zu einer Einheit zusammenzufassen. (Rainer Sigl, 18.5.2021)