Die Aufrüstung scheint bereits begonnen zu haben. Nicht nur die ÖVP eskaliert die Situation nach Kräften, indem sie das Bild der Verschwörung gegen den vermeintlichen Helden an ihrer Spitze immer greller zeichnet, auch die Opposition schlägt teilweise über die Stränge. FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl verortet die Türkisen auf den Spuren des verblichenen rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu, Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger warf vorsorglich, noch ehe es überhaupt eine Anklage gibt, im Ö1-Interview das Wort vom "kriminellen Kanzler" in die Runde.

Die Frage, ob Sebastian Kurz im U-Ausschuss gelogen hat oder nicht, hat mit den Sorgen der breiten Masse kein bisschen zu tun.
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Steuert die Politik also, wie es fast schon der Brauch ist, auf vorgezogene Neuwahlen zu? Man soll die Planungsfähigkeit der Parteien nicht überschätzen. Was wie Strategie aussieht, ist mitunter von Emotion und Eitelkeit getriebene Dynamik. Mit kühlem Kopf betrachtet sollten gerade die Regierungsparteien, denen die Entscheidung über weitermachen oder nicht obliegt, den Weg zu einem baldigen Urnengang scheuen.

Die ÖVP sollte sich beim Gedanken an eine Flucht nach vorn in Neuwahlen nicht von vergangenen Triumphen blenden lassen: Die an die Haider'sche Buberlpartie erinnernde Präpotenz, die aus den Chatprotokollen rund um die Postenschacher-Causa spricht, stößt auch in bürgerlichen Kreisen auf Abneigung. Und selbst wenn der bewährte Märtyrerschmäh – "Alle gegen Sebastian" – noch einmal zieht: Mit wem will die ÖVP nach dem Tag X regieren? Verbessern wird es sich Kurz mit keinem der möglichen Partner. Die FPÖ ist unter Kickl nicht salonfähig, die SPÖ mit türkisem Gedankengut inkompatibel.

Keine verlockende Alternative

Auch die Grünen haben keine verlockende Alternative in Aussicht. Eine Koalition mit der SPÖ und den Neos wird sich, wenn keine Sensation passiert, nicht ausgehen. Bleibt die Rückkehr auf die harte Oppositionsbank.

Sicher: Die Grünen könnten für sich reklamieren, ihre moralischen Grundsätze als redliche Partei hochgehalten zu haben. Aber gewählt wurden Werner Kogler und Co vor eineinhalb Jahren in erster Linie fürs Gestalten. Wichtigstes Motiv war die Hoffnung auf eine mutige Klimapolitik. Dieses Versprechen müsste dann uneingelöst bleiben.

Das spricht, solange Kurz keine Verurteilung kassiert, nicht nur aus grüner Perspektive gegen Neuwahlen: Es ist fraglich, ob es in der Bevölkerung breites Verständnis für ein politisches Reset wegen dieser Causa gibt. Im Kern leuchtet der Sachverhalt – ein Politiker hat ebenso die Wahrheit zu sagen wie jeder einfache Bürger – zwar ein. Doch der Widerspruch zwischen den Chatprotokollen und Kurz' Aussagen im U-Ausschuss ist nicht so eindeutig, als dass sich daraus ein klar belegbares Bild ergibt. Wochenlang wird sich die Debatte um Interpretationen und semantische Feinheiten drehen. Ein großer Teil des Publikums wird aussteigen – und alles zum Schaden der gesamten Politik als rein selbstbezogenes Theater abtun.

Es wäre fehl am Platz, deshalb über ignorante Bürger die Nase zu rümpfen. Die meisten Wähler interessieren sich verständlicherweise dann für Politik, wenn diese die eigenen Lebensumstände berührt: Sie wünschen sich, dass die Regierung für Jobs, gute Schulen, Umweltschutz und – speziell nach der Corona-Krise – für einen ruhigen Sommer sorgt. Die Frage, ob der Kanzler im U-Ausschuss gelogen hat oder nicht, ist demokratiepolitisch wichtig – von den Sorgen der breiten Masse aber weit weg. (Gerald John, 18.5.2021)