Lange hat der Kampf gegen die Pandemie, wie hier beim Besuch einer Corona-Station im Haus Katharina der Barmherzigen Schwestern in Wien, ÖVP und Grüne aneinandergebunden. Droht Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Werner Kogler nun die politische Scheidung?

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Die Stimmungslage wirkt paradox. Keine der fünf Parlamentsparteien lässt echte Begeisterung für Neuwahlen erkennen. Dennoch ist dieses Szenario in aller Munde, seit die Staatsanwaltschaft gegen Kanzler Sebastian Kurz wegen Falschaussage im Untersuchungsausschuss ermittelt.

Die Opposition schießt sich naturgemäß auf den ÖVP-Chef ein, doch letztlich sind das nur Nebengeräusche. Ob die zu Beginn 2020 begonnene Legislaturperiode bereits heuer wieder endet, liegt in der Hand der Regierungsparteien.

Die kleinere der beiden ist hin- und hergerissen. Einerseits haben die Grünen einen Ruf als saubere Antikorruptionspartei zu verlieren. Eine Fortsetzung der Koalition mit Kurz selbst dann, wenn gegen diesen Anklage erhoben wird, droht einen schweren Imageschaden zu verursachen – samt Aufstand der eigenen Parteifunktionäre, denen moralische Prinzipien wichtig sind.

Andererseits steht die Regierungsbeteiligung auf dem Spiel. Weil sich die ÖVP ihren Helden Kurz nicht vom Koalitionspartner "herausschießen" lassen wird, würde ein Abrücken der Grünen in Neuwahlen münden – und für Letztere mit großer Wahrscheinlichkeit auf der Oppositionsbank. Abgesehen von liebgewonnenen Posten müssten Regierungsmitglieder und Mandatare also auch die Chance zum Gestalten aufgeben.

Grüne setzen auf Abwarten

Gerade dafür wurden die Grünen im Herbst 2019 aber gewählt: Der wichtigste Grund war die Hoffnung auf eine Wende in der Klimapolitik. Die Corona-Krise schränkte abgesehen von einer üppigen Budgetzusage die Möglichkeiten ein, bisher Großes weiterzubringen. Vieles ist noch in Verhandlung, es fehlt an handfesten Erfolgen, die sich im Wahlkampf vorzeigen ließen. Ob die Wähler da eine positive Bilanz ziehen?

Die grüne Spitze setzt erst einmal auf Abwarten. Natürlich gebe es Grenzen der Amtsfähigkeit, sagte Parteichef Werner Kogler im Interview mit dem STANDARD, legte sich aber nicht fest, wo diese im Fall Kurz zu ziehen sind. Nicht einmal eine Verurteilung des Kanzlers wollte er als Ausschließungsgrund definieren, von einer Anklage ganz zu schweigen. Diese Frage sei schrittweise, mit jeder Entscheidung der Justiz, zu bewerten.

Daran sollen sich auch die Mandatare und Funktionäre halten, so die interne Parole: Damit die Justiz in Ruhe arbeiten könne, ohne dass Ministerin Alma Zadić eine Tendenz vorgeworfen werden kann, sollen öffentliche Festlegungen tabu sein. Doch eine Annahme ist wohl nicht allzu gewagt: Viele Grüne halten es für undenkbar, einem angeklagten ÖVP-Chef die Stange zu halten.

Selbst wenn Kogler und die Chefetage das anders sehen sollten, sei der Fortbestand noch nicht gesichert, merkt die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle an: Es reiche, wenn sechs von 26 Grün-Mandataren im Nationalrat abspringen und einen Misstrauensantrag der Opposition unterstützen. In einer Partei, in der die Klubdisziplin weit weniger ausgeprägt sei als bei ÖVP oder SPÖ, sei das keine Utopie.

Sprengkraft von unten

Schwer zu kontrollieren ist auch die grüne Parteibasis, der sich beim Bundeskongress am 13. Juni eine Bühne bietet: nicht ausgeschlossen, dass dort ein Antrag auf ein Ende der Koalition eine Mehrheit findet. Entscheidend für die Haltung der Grünen könnte auch sein, wer in der starken, traditionell weit links stehenden Wiener Landespartei die vakante Führung übernimmt.

Und die ÖVP? Die könnte ihr Heil in einem Koalitionsbruch und Neuwahlen suchen, wenn sie auf einen breiten Solidarisierungseffekt mit ihrem (einstigen) Strahlemann setzt, glaubt Stainer-Hämmerle. Doch abgesehen von den längst nicht mehr überbordenden Umfragewerten sprächen wie bei den Grünen die mangelnden Alternativen nach der Wahl dagegen. Koalitionen mit der SPÖ oder der FPÖ seien, wenn diese überhaupt zustande kommen, kaum verlockender.

Bleibt noch ein potenzieller Verursacher von Neuwahlen: Bundespräsident Alexander Van der Bellen könnte die Regierung entlassen. Doch das sei wohl nur in einem Fall im Bereich des Möglichen, sagt Stainer-Hämmerle: wenn Kurz verurteilt wird, aber nicht weichen will. (Gerald John, 18.5.2021)