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Wegen Rückkopplungseffekten könnte das Eis in Grönland schneller schmelzen als bisher angenommen.

Foto: REUTERS / Bob Strong

Berlin – In Teilen des grönländischen Eisschilds dürfte laut einer deutschen Studie bald ein kritischer Punkt überschritten werden. Wissenschafter vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) erklärten am Montag, dass die steigenden Temperaturen die Eismassen in zentral-westlichen Gebieten bereits stark in Mittleidenschaft gezogen haben. Selbst ein Stopp der Erderwärmung könnte deren Verlust nicht mehr aufhalten.

"Wir haben Belege dafür gefunden, dass sich der zentral-westliche Teil des Grönland-Eisschildes destabilisiert hat", erklärte dazu der PIK-Wissenschaftler Niklas Boers. "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass es in der Zukunft zu einem deutlich verstärkten Abschmelzen kommen wird – was sehr besorgniserregend ist." Ursache sind demnach Rückkopplungseffekte, wodurch die Erwärmung des Eisschildes schneller voranschreitet, wenn sich seine Höhe verringert.

Teufelskreis

Analysen von bis zu 140 Jahre alten Eisproben aus dem Jakobshavn-Becken, das einen der am schnellsten schmelzenden Gletscher beherbergt, brachten die entscheidenden Warnsignale für einen womöglich schon überschrittenen Wendepunkt zutage. Der Jakobshavn Isbræ umfasst einen wesentlichen Teil der grönländischen Eismasse (etwa 6,5 % des Inlandeises), sein Zerfall ist aber bereits offensichtlich: Der Gigant verliert jedes Jahr rund 35 Milliarden Tonnen seiner Masse – kein anderer Gletscher der Nordhalbkugel kalbt häufiger.

Als die Wissenschafter vereinfacht gesagt die Höhe der Eisdecke in Relation zur aktuellen Schmelzraten setzten, ergab sich der beschleunigte Aufwärtstrend gleichsam auch in Zahlen. Verantwortlich dafür dürfte ein Teufelskreis sein, in dem diese Regionen mittlerweile geraten ist: Die Eismassen schmelzen demnach bereits so rasch, dass ihre immer dünnere Decke auch immer höheren Temperaturen in niedrigeren Höhen ausgesetzt ist – das wiederum führt zu einem weiteren Dickenverlust der Eisdecke.

Im Vordergrund die kalbende Front des Jakobshavn Isbræ mit dem Illuisat-Eisfjord im Hintergrund.
Foto: NASA/Michael Studinger

Allerdings dürfe man nicht vergessen, in welchen Zeiträumen derartige Entwicklungen ablaufen, so die Forscher. Selbst bei den befürchteten Verlustraten würde es Jahrhunderte dauern, bis das Eis im Jakobshavn-Becken verschwunden sein wird. Für die gesamte Eisdecke Grönlands müsste man in Jahrtausenden denken.

Am Besten unter das vorindustrielle Niveau

Um zu einem früheren Status quo hinsichtlich der arktischen Eisschildhöhen zurückzukehren, bräuchte es rein rechnerisch dennoch ein sehr ehrgeiziges Ziel, wie Boers und sein Kollege Martin Rypdal von der Universität Tromsø, Norwegen, im Fachjournal "PNAS" berichten: Demnach müsste nicht nur die Erwärmung gestoppt werden, sondern die Temperaturen müssten womöglich sogar deutlich unter das vorindustrielle Niveau gedrückt werden.

"Praktisch wird also der gegenwärtige und in naher Zukunft zu erwartende Massenverlust des Eises in dieser Region weitgehend irreversibel sein", erklärte dazu Boers. "Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir die Treibhausgasemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe schnell und deutlich reduzieren und das Eisschild und unser Klima wieder stabilisieren."

Unaufhaltsamer Trend

Nach bisherigen Modellergebnissen ist laut PIK das Abschmelzen des gesamten Grönland-Eisschilds ab einer kritischen Schwelle der globalen Mitteltemperatur von 0,8 bis 3,2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau unvermeidlich. Lässt sich das nicht aufhalten, wird allein das geschmolzene arktische Eis in einigen Jahrtausenden sieben Meter zum Meeresspiegelanstieg beitragen haben. Eine weitere Folge dürfte der Zusammenbruch der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation (Amoc) sein, eine Meeresströmung, die als Golfstrom Europas Westen beheizt.

Der 24K Glacier in den Kangri-Karpo-Bergen im südöstlichen Tibetischen Plateau.
Foto: WSL/Marin Kneib

Auch die Gebirgsgletscher

Unter Stabilitätsverlust leidet allerdings nicht nur das Eis der Pole, auch die Hochgebirgsgletscher geben immer schneller nach, wie ein Schweizer Team anhand von tausenden Gletschern im Hochgebirge Asiens nachgewiesen hat. Die Messungen der Forscher zeigten, dass die winterlichen Schneefälle bei der Mehrheit der Gletscher im Schnitt weniger als die Hälfte der Schmelze kompensierten.

Die Wissenschafter um Evan Miles von der Schweizer Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) entwickelten auf Basis von Satellitendaten ein Berechnungsmodell, um das Verhältnis von Neuschnee und Schmelze auf den Gletschern von Jahr zu Jahr zu rekonstruieren. In ihrer im Fachmagazin "Nature Communications" veröffentlichten Studie legen sie die Ergebnisse für 5.527 Gletscher zwischen den Jahren 2000 und 2016 dar.

Demnach verlieren siebzig Prozent der Gletscher jährlich Eis. Und die Mehrheit der Gletscher weise nur kleine Flächen auf, an denen Eis nachgebildet werde. Einzig die Gletscher im Karakorum- und Kunlun-Gebirge wuchsen im untersuchten Zeitraum.

Die Grafik zeigt den Anteil der jährlichen Gletscherschmelze, der zwischen 2000 und 2016 kompensiert wurde. Rote Punkte: Netto-Eisschmelze, blaue Punkte: wenig Veränderung, violette Punkte: Netto-Eiszunahme.
Grafik: Evan Miles

Nicht überlebensfähig

Rund 250 Millionen Menschen sind auf das Schmelzwasser aus dem asiatischen Hochgebirge angewiesen. Allerdings kompensieren die winterlichen Schneefälle bei den meisten Gletschern durchschnittlich weniger als die Hälfte der sommerlichen Schmelze. Infolgedessen sei die Mehrheit der Gletscher in ihrer derzeitigen Form einfach nicht überlebensfähig, erklärte Miles.

Auch wenn sich die Erde in Zukunft nicht weiter erwärmen würde, gingen bis zum Ende des Jahrhunderts rund zwanzig Prozent des Eisvolumens verloren, so die Studienautoren. Dadurch würde ein wichtiger Zufluss für Ströme wie den Indus, den Amudarja oder den Syrdarja versiegen. Der bevorstehende Klimawandel werde die Gletscherschmelze noch zusätzlich antreiben und die Wasserversorgung in einigen der tiefer gelegenen Regionen beeinträchtigen, so die WSL.

Eine kürzlich erschienene Studie der ETH Zürich und der französischen Université de Toulouse zeigte auf, dass die meisten Gletscher weltweit inzwischen im Rekordtempo wegschmelzen. Die Forscher wiesen ebenfalls daraufhin, dass bevölkerungsreichen Staaten wie Indien oder Bangladesch in wenigen Jahrzehnten Wassernot drohen könnte, wenn die Himalaya-Gletscher weiterhin mit steigendem Tempo schrumpfen. (red, APA, 18.5.2021)