"Nur wenig Berufe sind sinnvoller und erfüllender als diejenigen, die menschliches Leid heilen und lindern", sagt WU-Professor Johannes Steyrer.
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STANDARD: Gesundheitsberufe stehen oft im Verdacht, besonders erschöpfend zu sein, krankzumachen. Stimmt das?

Steyrer: Es gibt sehr viele Studien über das Burnout in Gesundheitsberufen. Greift man eine große europäische Studie heraus, dann berichten 43 Prozent der Befragten von emotionaler Erschöpfung, 35 Prozent von Tendenzen zur Depersonalisierung, sodass sie Patienten nicht mehr als Menschen, sondern nur noch als krankes Objekt sehen, und 32 Prozent artikulieren eine reduzierte Leistungsfähigkeit. Von allen drei Symptomen sind zwölf Prozent betroffen. Ja, und zahlreiche Studien belegen, dass bei Medizinern die Suizidrate zwei- bis fünfmal höher ist als in der Durchschnittsbevölkerung, was viele Gründe hat, aber unter anderem auch mit dem leichten Zugang zu sedierenden Medikamenten zusammenhängt. Aber in allen Berufen, wo es um Emotional Labour geht, ist der Stress vergleichsweise am höchsten. Das sind Berufe, in denen man seine Emotionen ständig kontrollieren muss. Bei Gesundheitsberufen kommt erschwerend hinzu, dass es im Vergleich zum Beispiel mit Lehrern, die in puncto Stress an der Spitze rangieren, nicht "nur" um Schülerverhalten, sondern um menschliches Leben geht. Hinzu kommt, dass es in Spitälern immer wieder eine Blame- und Shame-Kultur gibt, die professionelles Versagen sanktioniert.

Wie sind die Arbeitsbedingungen in den Spitälern? Das ist ja immer wieder Stein des Anstoßes...

Steyrer: Tatsächlich ist die Arbeitszufriedenheit in Spitälern im Vergleich mit anderen Berufsgruppen leicht unterdurchschnittlich. Dafür ist aber nicht der Inhalt der Arbeit verantwortlich. Nur wenig Berufe sind sinnvoller und erfüllender als diejenigen, die menschliches Leid heilen und lindern. Nein, es sind die Systembedingungen, die zu schaffen machen. Dazu gehören lange, ungeregelte Arbeitszeiten, Schichtdienst, Zeitdruck, hohe Verantwortung für Menschenleben, steigende Patientenerwartungen und last but not least eine überhandnehmende Bürokratie, sodass immer weniger Zeit für den Patienten bleibt. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie hat zumindest bei den Arbeitszeiten eine Entschärfung gebracht. Soviel ist klar, wer eine freizeitorientierte Schonhaltung zum Lebensmotto hat, der sollte Bademeister werden und keinen Gesundheitsberuf ergreifen.

STANDARD: Hat man quasi automatisch gute Karten, wenn man heute in einem Gesundheitsberuf anfängt – Stichwort überalternde Gesellschaft und weniger Junge?

Steyrer: Heute sind in Österreich rund 1,7 Millionen Menschen über 65 Jahre alt. Davon sind in etwa zwei, drei chronisch krank. 2050 werden 2,6 Millionen Menschen über 65 Jahre alt sein. Heute sind rund 130.000 Menschen dement. 2050 werden es doppelt so viele sein. Da braucht es gar keine Kondratjew-Welle, um mit Sicherheit voraussagen zu können, dass es kaum eine andere Branche gibt, die so zuverlässig wachsen und Karrierechancen bieten wird, wie der Gesundheitssektor.

STANDARD: Abseits aller Werbung und Versprechungen – welche Gesundheitsberufe sind künftig wirklich attraktiv?

Steyrer: Auf den russischen Ökonomen Kondratjew geht eine Theorie über die langen Wellen wirtschaftlicher Entwicklung zurück. Jeder langanhaltenden Welle liegt eine Basisinnovation zugrunde, wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Elektronik oder die Massenmobilität. Neben der Digitalisierung wird das 21. Jahrhundert vom Megamarkt Gesundheit geprägt sein. Seit 2000 sind in den USA zwei Drittel der neuen Arbeitsplätze im Gesundheitssektor entstanden, und bis 2025, so die Prognose, wird dieser Sektor überhaupt der größte Arbeitgeber sein. Alle Gesundheitsberufe haben also großes Potenzial. Die ärztlichen Berufe, die medizinischen Assistenzberufe etwa in der Radiologie, im Labor, in der Physiotherapie bis hin zum Operationsassistenten oder den Heilmasseuren. Aber die größte Zukunft hat die Pflege. Dieser Beruf wird eine enorme Aufwertung erfahren. In Großbritannien, Schweden oder Kanada setzt er jetzt schon Hochschulabschluss voraus. Das wird auch bei uns so kommen als Voraussetzung. Der Pflege wird mehr Verantwortung übertragen werden, und sie wird viele Routinetätigkeiten der Medizin übernehmen. Die dafür notwendigen gesundheits-, sozialpolitischen, bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen werden auch bei uns, wie in anderen führenden Ländern, umgesetzt werden. Die Medizin wird sich mehr und mehr in die Tiefe spezialisieren, und die Pflege wird den ganzheitlichen, in die Breite gehenden Part in der Versorgung übernehmen. Aber auch in der Pflege wird es zu einer funktionalen Ausdifferenzierung zwischen verschiedenen Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten bis hin zur weniger qualifizierten Pflegehilfe kommen. (Karin Bauer, 20.6.2021)