"Kann man etwas Schändlicheres nennen […] als Dirnen, Kuppler und das dazugehörige Unheil? Aber entferne die Dirnen aus der Gesellschaft und du wirst alles durch Wollust verwirren." Dieses Urteil des spätantiken Kirchenvaters Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.) spiegelt eine Haltung wider, die den Umgang der Kirche mit der Prostitution in den darauffolgenden Jahrhunderten nachhaltig prägen sollte. Mit seiner These einer Prostitution als notwendiges Übel legitimierte Augustinus dieses Gewerbe für das christliche Europa und führte die Kirche gleichzeitig in ein moralisches Dilemma: Muss ein kleineres Übel toleriert werden, um ein größeres zu verhindern?

Augustinus von Hippo war der Prostitution gegenüber nicht positiv, aber pragmatisch eingestellt.
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Die käufliche Liebe galt Augustinus insofern als Übel, als sie nur der Lustbefriedigung diente. Noch größer war dieses Übel jedoch, wenn Sexualität unter Anwendung von Gewalt oder gar "wider die Natur" passierte: Wer eine strenge Sexualmoral propagierte und die Ehrbarkeit einer Person an deren sexuelle Integrität knüpfte, musste konsequenterweise ebendiese Ehrbarkeit schützen. Mittelalterliche Rechtsvorschriften sahen zum Teil harte Strafen für Vergewaltigungen vor: Im Wiener Stadtrecht von 1221 wurde Jungfrauen und ehrbaren Bürgerinnen im Falle eines sexuellen Übergriffes ein Klagerecht eingeräumt.

Bei der Bestrafung von Sexualdelikten konnte es sich jedoch nur um Symptombekämpfung handeln. Die Ursache für sexuelle Gewalt, die im zeitgenössischen Verständnis von Männern ausging, sahen sowohl Kirche als auch Stadtobrigkeit in überschüssiger Libido. Um dem Problem entgegenzuwirken, anerkannten die Obrigkeiten die Prostitution als eine Art Ursachenbekämpfung: Nach Augustinus funktionierte sie wie ein Ventil, das die Lust in geordnete und kontrollierbare Bahnen ableite – und somit ehrbare Frauen vor Übergriffen schütze.

Ein Ventil für die männliche Libido

Die augustinische Legitimationsthese wurde auch von Thomas von Aquin (circa 1225–1274) übernommen. Dieser prägte das Bild der Prostitution als "Abwasserkanal", der die problembehaftete Libido gewissermaßen fortschwemmen sollte. Trotz aller Legitimationsversuche stufte er das Geschäft mit der Liebe dennoch als sündhaft ein – als kleineres Übel eben.

Wiewohl sich Thomas lediglich auf Augustinus’ These stützte und dessen Autorität auf dem Gebiet der käuflichen Liebe nur bestätigte, verhalf er dennoch der Theorie vom kleineren Übel zum Durchbruch: Thomas’ Schaffenszeit fiel in das 13. Jahrhundert und somit in die Epoche der Städte – ein wichtiger Umschlagplatz für die Prostitution. Bereitwillig nahmen die städtischen Autoritäten die Ansichten der beiden Kirchengelehrten auf. Primär spielten hierbei Überlegungen zum Erhalt des sozialen Friedens eine Rolle. So beschloss etwa der Stadtrat von Bozen 1472 die Einrichtung eines Bordells, des Frauenhauses, "damit merer übels vermiten werd", und reihte sich damit in einen überregionalen Trend ein; mehrere Hundert Frauenhäuser wurden im Spätmittelalter vor allem an urbanen Knotenpunkten der transnationalen europäischen Handelsrouten unter städtischer Aufsicht eröffnet.

Unverheiratete Christen erhielten somit die Möglichkeit, ihre Sexualität legal mit einer Prostituierten auszuleben. So sollten sexuelle Übergriffe an ehrbaren Frauen möglichst verhindert werden – mit Erfolg. Umgekehrt galt dies aber nicht: Gemeine Dirnen mussten (all-)gemein zur Verfügung stehen. Immerhin wurde ihnen jedoch durch die Institutionalisierung der Prostitution das Recht eingeräumt, sich gegen (sexuelle) Gewalt zu wehren. Im bereits genannten Wiener Stadtrecht von 1221 waren sie noch vom Klagerecht im Falle einer Vergewaltigung aufgrund ihrer "Ehrlosigkeit" ausgeschlossen. Der Stadtrat beschützte somit "seine" Dirnen vor äußerlicher, aber auch strukturell-systemimmanenter Gewalt wie Menschenhandel und Zwangsprostitution.

Das Geschäft mit der Liebe wurde im Spätmittelalter institutionalisiert. Bild: "Die Kupplerin", Jan Gerritsz van Bronckhorst (circa 1636/1638).
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Neue Sitten und religiöser Eifer: Das Ende der Toleranz

So sehr sich die Kirche um das Seelenheil der "sündigen" Dirnen bemühte – immerhin sündigten sie für das Allgemeinwohl –, galten Prostituierte nichtsdestotrotz als randständig. Der vorläufigen Akzeptanz ihrer devianten L(i)ebensform wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts ein jähes Ende bereitet: Diese Epoche war reich an religiösem Eifer, und eine neue Sittlichkeit begann sich zu etablieren. Die mittelalterlichen Moralvorstellungen, die auch Bordelle tolerierten, wurden von den Reformatoren als Beweis für eine degenerierte, sündhafte katholische Kirche gesehen. Vor allem der katholische Kirchenlehrer Augustinus stand in der reformatorischen Kritik.

Allen voran war es Martin Luther, der in den Dirnen nicht länger die Lösung für das Sündenproblem, sondern eine seiner Ursachen sah: Er verkehrte die augustinische Legitimationsthese in ihr Gegenteil. Demnach würden Prostituierte nicht ein größeres Übel abwenden, sondern selbst dazu verführen. Luther nannte die Prostituierten nicht länger "gemeine Dirnen" oder gar "gute Fräulein", sondern Huren und "Vergifterinnen des Volkes". Er reihte sie in den dubiosen Reigen von Dieben und Mördern ein und kriminalisierte somit die Prostitution, deren Image ohnehin bereits durch die grassierende Syphilis angeschlagen war.

Martin Luther nutzte das schlechte Image der Prostitution im Kampf gegen die katholische Kirche.
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In protestantischen Städten wurden die Bordelle in der Folge rasch geräumt und geschlossen. Katholische Städte hielten noch dagegen – auch zum Unmut der Landesfürsten – und ließen die Frauenhäuser offen; immerhin bescherten diese den Stadtkassen nicht zuletzt auch finanzielle Abgaben. Die in Österreich weitestgehend erfolgreiche katholische Gegenreformation übernahm jedoch die zeitgenössische strengere Sittlichkeit und führte zu einer Schließungswelle der Frauenhäuser. In Wien, Graz, Innsbruck und anderen Städten schafften die Stadträte die institutionalisierten Frauenhäuser im Laufe des 16. Jahrhunderts ab. Auch der Bozener Stadtrat drängte 1539 auf die Schließung seines Bordells. Zwar leistete die Frauenwirtin Katarina zunächst noch Widerstand, knickte jedoch in Anbetracht der angedrohten Kerkerstrafe ein. Was mit den gemeinen Dirnen geschah, ist in den Stadtratsprotokollen nicht überliefert. Fest steht jedoch: Kein Frauenhaus hatte über das 16. Jahrhundert hinaus Bestand. Die Idee Luthers, mit den Bordellen auch die Prostitution abzuschaffen, sollte sich jedoch als Trugschluss erweisen. (Michael Hammer, 21.5.2021)