Bild nicht mehr verfügbar.

Das sogenannte Livestream-Shopping boomt in China. Einige Menschen sind dadurch zu landesweiten Berühmtheiten aufgestiegen.

Foto: AP/Andy Wong

Wenn sich Li Jiaqi vor die Kamera setzt und anschließend Lippenstifte probiert, schauen ihm in der Regel mehrere Millionen Menschen zu. ""OMG! Sisters, buy this!", sagt er in die Kamera. In fünf Minuten verkaufte Li 15.000 Lippenstifte, er macht an einem Tag mehr als 140 Millionen Dollar Umsatz.

Während hierzulande kaum jemand von Li Jiaqi gehört hat, ist er in China eine nationale Berühmtheit. Er ist Teil der im Land mittlerweile milliardenschweren Branche des sogenannten Livestream-Shoppings: Anstatt Produkte online nur in Bildern und Text zu bewerben, werden sie in Echtzeitvideos präsentiert. Immer mehr chinesische Unternehmen wollen den Online-Einkauf so zu einem interaktiven Erlebnis machen – "Shoppertainment" sagen die Entwickler dazu. Gleichzeitig sollen sich Menschen beim Online-Kauf stärker austauschen, beraten und sogar in Gruppen einkaufen.

Geht es nach den Entwicklern, soll das nicht nur die chinesischen, sondern bald auch die europäischen Konsumenten begeistern. Stehen wir vor einem Umbruch des digitalen Einkaufens?

Li Jiaqi ist in China eine nationale Berühmtheit.
Tiktok Box

Einkaufen in Teams

Das relativ junge chinesische Unternehmen Pinduoduo ist ein Beispiel für sich. Als es vor sechs Jahren gegründet wurde, bestand das Geschäftsmodell darin, Obst und Gemüse von Landwirten zu kaufen und anschließend online an die Konsumenten zu vermarkten – vor allem über Gruppen auf Wechat, einem Chat-Dienst ähnlich wie Whatsapp, über den auch Zahlungen abgewickelt werden können. Mittlerweile spielt Obst und Gemüse im Angebot nicht mehr die größte Rolle. Das Unternehmen hat mehr als 580 Millionen aktive Käufer, im vergangenen Jahr wurden jeden Tag durchschnittlich 54 Millionen Pakete versandt – von Bekleidung bis hin zu Elektronik.

Anstatt jede Person einzeln einkaufen zu lassen, tauschen sich Nutzer bei Pinduoduo regelmäßig in Wechat-Gruppen zu neuen Produkten aus, geben Empfehlungen ab und kaufen dann gemeinsam als Team ein. Je größer die Gruppe ist, desto mehr Rabatte verspricht das Unternehmen. Zusätzlich entwickelt es Online-Spiele, die die Nutzer noch mehr an die Plattform binden sollen. Bei einem Spiel müssen sich Nutzer beispielsweise um einen Baum kümmern und die App regelmäßig öffnen, um Wasser, Dünger und andere Produkte zu kaufen. Ist der Baum einmal virtuell "gereift", erhält der Nutzer eine Schachtel mit Früchten von seinem "eigenen" Baum.

Bild nicht mehr verfügbar.

Auf Pinduoduo sollen Menschen in größeren Gruppen einkaufen.
Foto: REUTERS/Florence Lo/Illustration/File Photo

Livestream-Shopping

Was Pinduoduo laut Experten mit den anderen wachsenden Online-Handelsunternehmen aus China verbindet, ist die starke Ausrichtung auf das Smartphone und die Interaktion zwischen den Käufern und Verkäufern. Darunter fällt auch das anfangs erwähnte Livestream-Shopping, das in China und anderen asiatischen Staaten bereits gängige Praxis ist. Dabei werden die Produkte in Echtzeit von Influencern oder Angestellten präsentiert, die Zuseher können Fragen zum Produkt stellen und es noch während des Livestreams bestellen.

Durch die Corona-Pandemie und die Ausgangsbeschränkungen hat sich der Trend nun noch einmal verstärkt. So ist etwa die chinesische Streamingplattform Taobao Live zu den am schnellsten wachsenden Geschäftsbereichen des Online-Giganten Alibaba aufgestiegen. Einige der Personen, die die Produkte für die Plattform präsentieren, wie etwa Li Jiaqi, sind landesweit zu Berühmtheiten geworden und verdienen mit dem Geschäft Millionen.

Ein Beispiel für einen Livestream auf der Plattform Taobao Live.
SCMP Archive

Kürzlich hat Alibaba sogar ein Village Livestreaming College in einer chinesischen Provinz aufgebaut, in dem Dorfbewohner und Landwirte lernen sollen, ihre Produkte über Livestream zu bewerben. Und auch "virtuelle Hosts" werden mittlerweile für einige Produktpräsentationen eingesetzt. Sie sollen die Livestreams eines Tages in vielen verschiedenen Sprachen präsentieren können.

Geschäft der Influencer

Ganz neu ist dieser Trend freilich nicht. Dass Menschen Produkte vor der Kamera präsentieren, kennt man spätestens seit der Teleshopping-Zeit. Und auch hierzulande versuchen Influencer mit ebenso persönlichen Beziehungen zu den Zusehern nicht nur ihre eigenen Geschichten, sondern auch jene der werbenden Unternehmen auf sozialen Netzwerken zu präsentieren.

Während allerdings in China bereits mehr als die Hälfte aller Verkäufe über das Internet ablaufen und davon mehr als 80 Prozent über Smartphones, wie es in einem Bericht des US-amerikanischen Marktforschungsunternehmens E-Marketer heißt, werden in Österreich derzeit noch lediglich zwölf Prozent der Umsätze des Handels im Internet gemacht, von denen wiederum 14 Prozent über das Smartphone getätigt werden, heißt es vom Handelsverband.

Trends kommen nach Europa

Nicht zuletzt deshalb wittern chinesische Handelsriesen wie Alibaba oder JD.com seit längerem auch in Europa die Chance auf große Umsätze und wollen dort stärker Fuß fassen. JD.com baut derzeit etwa ein Verteilerzentrum in den Niederlanden auf und setzt dort vor allem auf selbstfahrende Transportfahrzeuge und Automatisierung. Und das zu Alibaba gehörende Unternehmen Aliexpress hat kürzlich wieder die Zahl seiner "Produktpräsentatoren" in Frankreich und Spanien erhöht. Eine wirkliche Konkurrenz für Amazon sind beide Unternehmen in den jeweiligen Ländern allerdings bisher noch nicht.

Dass chinesische Video-Apps aber auch in Europa Anklang finden können, hat nicht zuletzt der gewaltige Erfolg von Tiktok gezeigt. Die Plattform hat kürzlich die Marke von 100 Millionen Nutzern in Europa überschritten. Nun will das Unternehmen auch das Livestream-Shopping vorantreiben, um Produkte bei der Millionen-Followerschaft der Influencer zu bewerben. Zudem soll es neue Möglichkeiten geben, wie Unternehmen ihren Produktkatalog interaktiv präsentieren können.

Problem mit Datenschutz

Aber nicht alle sind überzeugt, dass die Trends nachhaltig sind und auch in Europa Anklang finden. "Die Handelsstrukturen sind in China seit jeher anders und schwer mit Europa zu vergleichen", sagt Cordula Cerha, Handels- und Marketingexpertin an der Wirtschafsuniversität Wien. Auch kulturelle Unterschiede seien zu berücksichtigen, etwa welche Rolle Konsum als Statussymbol in China spielt.

Nicht zuletzt bereitet auch der Datenschutz der Expertin Sorgen. "Den Konsumenten muss klar sein, dass sie im Internet und in den Apps mit ihren Daten bezahlen." Das Problem besteht zwar nicht nur in China, ist dort für viele Experten aber besonders bedenklich: Plattformen wie Wechat, auf denen viele Online-Händler in China aufbauen, geben laut eigenen Angaben beinahe alle Daten an die chinesischen Behörden weiter.

Stationärer Handel bleibt

Nichtsdestotrotz ist Cerha überzeugt, dass der Online-Handel über Smartphones und wohl auch das Live-Shopping auch bei uns in den nächsten Jahren wachsen wird. "Der Handel lebt nicht vom Einkaufen nach Bedarf, sondern vom Shopping, also davon, Produkte zu entdecken, etwas zu erleben und sich auszutauschen", sagt sie. Die Live-Events könnten viele dieser Bedürfnisse auch online erfüllen, besonders in Zeiten von Pandemien.

"Trotzdem ist der Online-Kauf für viele nach wie vor nicht mit dem Einkaufserlebnis vor Ort vergleichbar", sagt Cerha. Auch deshalb geht sie davon aus, dass es den stationären Handel noch lange geben wird und dass sich dieser eher mit dem Online-Handel ergänzen wird, als von diesem verdrängt zu werden. "Die langen Schlangen vor den Geschäften nach dem Lockdown haben ja gezeigt, wie wichtig das Shoppen vor Ort für viele immer noch ist." (Jakob Pallinger, 21.5.2021)