John Wray lebt in Brooklyn, trotz österreichischer Wurzeln schreibt er erst neuerdings auch auf Deutsch.

Foto: Christopher Ho

Er sei gerade mit dem "Mähdrescher durch die Kleingartensiedlung" gefahren, hielt eine Jurorin dem Autor John Wray 2017 nach seiner Lesung beim Bachmannpreis vor. Gemeint war das Aufgebot an Stilistik und Plot, das er in die zehn Seiten Text gesteckt hatte, die mit dem Telefonat zweier Geschwister beginnen, die sich erst über andere Autoren auslassen, uns dann in eine Welt ganz ähnlich unserer katapultieren, in der aber kleinste Verschiebungen andeuten, dass etwas nicht stimmt, von dort auf eine ornithologische Expedition mitnehmen und in einer Spiralbewegung wieder zurück zum Telefonat zweier Geschwister führen.

Madrigal bildet den Auftakt des nun erschienenen gleichnamigen Erzählbandes. Von viel Ambition auf wenig Platz strotzen auch die übrigen darin versammelten sieben Geschichten Wrays. Fünf im Original englischsprachige Romane von ihm liegen bereits vor, als Die Rechte Hand des Schlafes oder Das Geheimnis der verlorenen Zeit wurden die meisten ins Deutsche übertragen. Für diesen Band hat der 50-jährige US-Autor mit Kärntner Wurzeln erstmals auf Deutsch geschrieben.

Literarische Experimente

Seine Hauptfiguren sind dabei durchweg Männer, in jeder Kurzgeschichte schlüpft Wray in die Psyche eines anderen Extremfalls. So wirken die Erzählungen wie kleine, konzentrierte Experimentieranordnungen. Sehr markant etwa in Sieh das Licht, das mit der Aufzählung von Eindrücken der Welt im Gitterbett beginnt: die hölzernen Stäbe, die wuchtigen Hände des Vaters, die singende Mutter. "Lass die Mutter kommen, um deine Bedürfnisse zu stillen. Schick die Mutter wieder weg", kündigt sich bald Unheil an.

Das angesprochene Du wächst nun auf wenigen Seiten zwischen streitenden Eltern zum gemobbten Schüler heran, dealt als Jugendlicher mit Drogen und kauft schließlich Munition für einen Amoklauf. Dass da kein Ich erzählt, sondern ein Du adressiert wird, ist der Clou der radikal engen Perspektive: Ist er, der sich da Mut zuspricht, schizophren? Ist es überhaupt der Amokläufer selbst, dem wir lauschen, oder gibt es jemanden, der ihn manipuliert?

Andererseits sind alle Stationen, die Wray in der Entwicklung dieses scheiternden Lebens anführt, klischeehaft. Den Eindruck, dass da einer mit breitem Pinsel malt, wird man auch in anderen Geschichten nicht los. Zum Beispiel in Trotzhaus, wo sich der kürzlich pensionierte Autohändler Burr Senior, der sein Geschäft an seinen Sohn Little Burr übergeben hat, im Garten vor dessen Haus Stockwerk um Stockwerk ein alle möglichen Architekturstile zitierendes Ausgedinge baut, das Little Burr allmählich die Aussicht nimmt. Was der Vater ihm damit sagen will? Na ja, recht Erwartbares.

Angst, ertappt zu werden

In Im Bereich des Möglichen sitzen wir dann mit dem Uniprofessor Richard und Brooklyn, der Tochter seiner neuen Freundin Maya, zusammen im Auto. Es dauert wiederum nicht lange, ehe die heitere Stimmung gehörige Kratzer bekommt: "Er war es, der über seine Gedanken und seinen Körper bestimmte, nicht die Kinder um ihn herum. Nicht einmal die allerschönsten." Wray nimmt mit in die Gedanken eines Pädophilen, wir lernen seine Angst, ertappt zu werden, kennen. Nach 23 Seiten ist dem Mädchen nur durch Zufall nichts Schreckliches passiert.

Der Weg ist das Ziel dieser Geschichten, auch von jener über einen mangelhaft begabten Autor und seinen ausgedachten Elefanten. Wiewohl beide am Ende zu einer Leichtigkeit des Seins finden: Wollte man Wray etwas vorhalten, dann dass man trotz der ausgeklügelten Instrumentierung und zündenden Grundideen tieferen Sinn vermisst.

Im Nachbarschaftsstreit zweier Rinderbauern gilt letztlich das Recht des Stärkeren, wobei sich eine romantische Archaik Bahn bricht. Sind das in der Wildnis die echten Männer, scheint Wray beiläufig ironisch zu fragen. Alles ist sehr amerikanisch in diesen vorwiegend in US-Kleinstädten spielenden Geschichten. Wray zeichnet Szenen lebhaft, beherrscht Dialoge. Man erfreut sich aber besser an den feinen Oberflächen, als daran zu kratzen. (Michael Wurmitzer, 19.5.2021)