Mit seiner Verteidigung in der Sondersitzung des Nationalrats hat Kanzler Sebastian Kurz beim grünen Vizekanzler Werner Kogler keine Begeisterung ausgelöst. Aus pragmatischen Gründen spricht dennoch einiges für den Fortbestand von Türkis-Grün.

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Sigrid Maurer hat die Kanzlerpartei nicht geschont. Bei der Sondersitzung des Nationalrats am Montag ging die grüne Klubobfrau mit der ÖVP so hart ins Gericht, wie es unter Koalitionspartnern nicht alltäglich ist. "Hochnotpeinlich" habe sich Finanzminister Gernot Blümel in der Affäre um zurückgehaltene Akten verhalten, kritisierte sie: Das Demokratieverständnis der ÖVP müsse "neu geschärft" werden.

Bereiten die Grünen da die Abnabelung vor? Seit die Staatsanwaltschaft gegen Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz wegen des Verdachts der Falschaussage im U-Ausschuss ermittelt, ist der Bruch der Regierung ein reales Szenario. Sofern die ÖVP nicht die Flucht nach vorne in Neuwahlen wagen will, liegt die Entscheidung bei der kleineren Koalitionspartei. Dort spitzt sich alles auf eine Frage zu: Sollen die Grünen Kurz im Fall einer Anklage weiter stützen oder stürzen?

Eine gespaltene Truppe

"Wir sind in der Frage eine sehr gespaltene Truppe", berichtet ein erfahrener Grüner aus Wien. Unzählige Telefonate habe er seit Ausbruch der Causa prima mit Kolleginnen und Kollegen geführt. "Die einen sagen, bei einer Anklage müsse sofort Schluss sein", erzählt er. "Die anderen argumentieren, dass die Grünen nicht nur trotz, sondern gerade wegen der Anklage weitermachen müssten: Nur so sei garantiert, dass die Justiz weiterhin unabhängig bleibe – selbst wenn das uns Grünen als Partei schaden könnte."

Für die rote Linie bei Anklage spricht neben dem moralischen Argument, dass man für einen so ungustiösen Kanzler nicht länger den Steigbügelhalter spielen dürfe, die Angst vor einem Imageschaden. Die Grünen haben einen Ruf als Partei zu verlieren, die gegen Korruption immun ist. Je länger die Koalition unter Kurz’ Führung dauert, desto stärker drohen türkise Affären abzufärben.

Mit Kurz brechen – aber was dann?

Die Einwände gegen einen Bruch sind vielschichtiger. Abgesehen von der Sorge um die derzeit grün geführte Justiz stellt sich die Frage, was eine Abkehr von Kurz überhaupt bewirken kann. Dass die ÖVP ihren Helden opfert, um in anderer Besetzung mit den Grünen weiterzumachen, scheint ausgeschlossen. Kaum größer schätzen Skeptiker bei den Grünen die Chance auf einen fliegenden Wechsel zu einer Koalition von SPÖ, Grünen und Neos mit FPÖ-Duldung ein – auch wenn Niederösterreichs SP-Chef Franz Schnabl diese Variante via Twitter ins Spiel bringt.

Die wahrscheinlichste Folge sind Neuwahlen. Bitteres, aber realistisches Szenario: Dank virtuos gespielter Opferrolle behauptet Kurz den ersten Platz und lässt den bisherigen Partner auf der Oppositionsbank links liegen. Man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass ein Bruch Kurz' Karriere beende, warnt ein Bedenkenträger, die Strahlkraft sei nicht erloschen: Selbst manche grünen Anhänger hätten sich beklagt, wie unfair nicht mit dem Kanzler umgesprungen werde.

Conclusio nach kritischer Lesart: Am Ende hätten die Grünen aus einer Befindlichkeit heraus die Verantwortung verschleudert, Regierungspolitik zu machen. Und das für eine Affäre, die – wie Zweifler glauben – nie zur Verurteilung von Kurz führen werde.

Grünes Schweigegebot

Welche Haltung dominiert? Die Parteispitze deklariert sich bewusst nicht, intern wurde ein Schweigegebot vereinbart. Schließlich solle die Justiz in Ruhe arbeiten können.

Ein Gradmesser ist der Bundeskongress, zu dem sich das grüne Parteivolk am 13. Juni trifft. Bis Stichtag Montag sind keine Anträge zur Auflösung der Koalition eingetrudelt, doch das ließe sich beim Event nachholen. Ob ein solcher für die Grünen im Nationalrat verbindlich wäre, beantwortet Bundesgeschäftsführerin Angela Stoytchev so: formal nein, weil Abgeordnete ein freies Mandat haben, realpolitisch aber wohl ja.

Allerdings entschärft ein Umstand die Angelegenheit: Dass die Entscheidung der Kurz-Anklage bereits bis 13. Juni fällt, ist unwahrscheinlich. Die Grünen werden wohl noch länger Bedenkzeit haben. (Gerald John, 18.5.2021)