Ein Exil im Paradies: Tahiti wird den slowakischen Auswanderern bei Michal Hvorecký auf ihrer Flucht mitten im kalten europäischen Winter zum Sehnsuchtsort, an dem es obendrein nie friert.

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Der Autor Michal Hvorecký bricht in seinem Roman unsere tatsächliche Welt.

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"Wer wahrhaft als Slowake fühlt, / hat das Surfbrett stets zur Hand." Wie bitte? So gehen die Zeilen eines traditionellen hymnischen Nationalgesangs, will uns Michal Hvorecký in seinem neuen Roman glauben machen. Der slowakische Autor erfindet in Tahiti Utopia nämlich ein alternatives Kapitel der slowakischen Geschichte. Denn darin ist die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg anders ausgegangen: Statt der Gründung der Tschechoslowakei wandert das slowakische Volk aus Ungarn in die Südsee aus. Heimstatt findet es in Französisch-Polynesien, wo Tahiti ab 1922 als "Neu-Slowakien" bevölkert wird, angeführt vom in der Slowakei tatsächlich verehrten Milan Štefánik.

Mythen ranken sich um den Astronomen und Kampfpiloten, der als Gründervater der Tschechoslowakei gilt, deren erster Kriegsminister er wurde und 1919 unter unklaren Umständen bei einem Flugzeugabsturz starb. Hier zweigt Hvorecký (44) vom historischen Weg ab. Denn erst nach 1919 wird Štefánik im Roman zum Organisator der Auswanderungswelle. Geplagt von Ohnmachtsanfällen lernen wir ihn 1923 auf Tahiti kennen. Er hat die Insel kolonisiert, Kokosplantagen angelegt und empfängt einen stetigen Strom von Armutsflüchtlingen. Lange währt Hvoreckýs Aufschub für Štefánik allerdings nicht, auch hier stürzt er ab: bei Nationalfeiern 1923.

Fakten, Fiktionen, Fülle

Diese Verquickung von Fakten und Fiktionen macht einen Reiz des Buches aus. Mit Südseeexotik ist es erst einmal also Essig, die kommt erst im letzten Drittel wieder auf. Vorerst nimmt Hvorecký uns wieder mit zurück ins Europa nach dem Krieg. Hier gibt er den Friedensverhandlungen in Paris weiten Raum. Manchmal meint man angesichts der Fülle Wikipedia-Lektüre durchklingen zu hören oder zu merken, wie der Autor Häkchen auf einer Checkliste setzt. Dann tritt das Buch mit seinen schillernden Ausschmückungen etwas auf der Stelle.

Štefánik erweist sich aber als hellsichtiger Beobachter, der etwa meint, dass die westlichen Siegermächte gegenüber Asien und Arabien "chauvinistisch" agieren. Welches Potenzial hätte in einer neuen Ordnung gesteckt! Man ist hie und da an die EU jüngster Zeit erinnert: "Siebenundzwanzig Staaten konnten einfach nicht miteinander diskutieren. Die Sitzungen (...) gingen ergebnislos wochenlang so weiter."

Solche Seitenhiebe und Anspielungen gibt es unzählige. Hvorecký schafft es, in dieser alternativen Geschichtsschreibung den Leser beiläufig und doch wiederholt an spätere reale Katastrophen des Jahrhunderts sowie das heutige Europa und Migrationsbewegungen denken zu lassen. Als Verlierer der Verhandlungen werden die Slowaken in Ungarn Opfer kultureller Säuberungen. Die Österreicher, deren Land sie flüchtend queren, bekleckern sich nicht mit Gastfreundschaft.

Gauguins Paradies

Tahiti bietet sich ihnen endlich dar, wie aus Gemälden Paul Gauguins entsprungen: "Sechs sonnengebräunte, wuchtige Eingeborene kamen in einem Kanu angerudert." Hvorecký erzählt auch hiervon üppig in den Details. Die Pflanzen im Urwald wachsen höher als die Kirchen in der alten Heimat, und von den Einheimischen haben sich die Slowakinnen bald abgeschaut, oben ohne zu gehen. Doch die jungen Männer plagen Syphilis, Skorbut und Parasiten, von der Sonne schälen sich ihre Gesichter, und im Sand gehend verbiegen sich ihre Knöchel.

Die junge Nation durchleidet sämtliche Probleme, die eine solche zumal im Ozean ereilen können, von rassistischer Überheblichkeit über Personalmangel in qualifizierten Positionen bis zu einem verheerenden Zyklon sowie Atomwaffentests rund ums nahe Bikini-Atoll.

Davon erzählt aber Štefániks Urenkelin. Eines Vortrags wegen ist die Historikerin 2020 in Ungarn und muss sich anhören, ihre Forschung sei von George Soros gekaufte Propaganda. Hvorecký breitet vor uns illiberale Demokratie, politisch gesteuerte Medien, Verschwörungstheorien und Geschichtsklitterung aus – seine Leibthemen. Seit Troll (2018) ist er einer der spannendsten jungen Autoren des Kontinents und gefragter Auskunftgeber zu Osteuropa. Ihm gelingt ein furioser, kluger Ritt durch die Historie. (Michael Wurmitzer, 20.5.2021)