Die oberste Standesvertreterin der Richterinnen und Richter, Sabine Matejka, beobachtet Angriffe der Politik auf die Justiz mit Sorge.

STANDARD: Immer öfter und vehementer kritisieren vor allem türkise Politiker die Justiz. Wird die Justiz zum Spielball der Politik?

Sabine Matekja, Präsidentin der Richtervereinigung, meint, dass U-Ausschüsse ohne Wahrheitspflicht sinnlos wären.
Foto: Regine Hendrich

Matejka: Die Justiz wird in letzter Zeit sehr oft ins politische Hickhack miteinbezogen. Die politischen Parteien verfolgen ihre Strategien auch durch Anschuldigungen und Vorwürfe gegen die Justiz, und das sollte nicht sein. Vorfälle dieser Art hat es immer schon gegeben, aber auffällig ist, wie sich das intensiviert und zuletzt auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) konzentriert hat. Da war das Hintergrundgespräch des Kanzlers, in dem er "rote Netzwerke" in den Raum stellte. Nach dem Terroranschlag in Wien kam postwendend die Anschuldigung, die Justiz sei schuld, weil das Gericht den Attentäter bedingt vorzeitig entlassen habe. Ein völlig falscher Vorwurf, denn selbst wenn der Täter seine Strafe zur Gänze abgesessen hätte, wäre er schon lang vor dem Attentat wieder frei gewesen. Diese Reaktion war nicht nur inhaltlich falsch, sondern auch taktlos, so unmittelbar nach diesem furchtbaren Ereignis.

STANDARD: Auch die Hausdurchsuchung bei Finanzminister Gernot Blümel wurde von der ÖVP kommentiert, da war von "Verfehlungen" der Justiz die Rede …

Matejka: … und da richtete sich der Vorwurf auch ans unabhängige Gericht, weil die Bewilligung von Hausdurchsuchungen ja eines richterlichen Beschlusses bedarf. Auch da wird die Justiz vor dem Hintergrund eines politischen Konflikts und eines U-Ausschusses zum Spielball gemacht – und das halte ich für kritisch. Denn es ist die Justiz, die dann neutral und objektiv entscheiden soll, sei es die Staatsanwaltschaft über eine etwaige Einstellung oder Anklage, sei es am Ende des Tages das Gericht. Diese Neutralität sollten vor allem Spitzenpolitiker nicht nur respektieren, sondern auch vermitteln: Ich erwarte mir von Nationalratsabgeordneten oder Regierungsmitgliedern, dass sie den Rechtsstaat und seine Institutionen stärken und ihn nicht durch fragwürdige Verdächtigungen schwächen. Da werden von unterschiedlichen Personen immer die gleichen Sätze getrommelt und Anschuldigungen erhoben – und so etwas bleibt hängen.

STANDARD: Will man so den Glauben in den Rechtsstaat erschüttern?

Matejka: Die Wirkung mag es sein. Wobei ich das im Fall der Hausdurchsuchung beim Finanzminister gar nicht unterstellen will, da wollte man einfach den Minister, den Parteifreund, die Partei verteidigen. Aber um das zu erreichen, hat man die Justiz reingezogen und einen Kollateralschaden herbeigeführt. Die Frage ist schon, wie weit man gehen kann, um politische Individualinteressen zu verfolgen, wenn das gleichzeitig das Vertrauen in den Rechtsstaat schädigt.

STANDARD: Verantwortungslos?

Matejka: Auf jeden Fall unbedacht. Deswegen fand ich es gut, dass sich der Bundespräsident, der Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und viele andere gemeldet und hinter die Staatsanwaltschaft und den Rechtsstaat gestellt haben.

STANDARD: Ist der Schaden nicht schon angerichtet?

Matejka: Die Dauer und Intensität der immer wiederkehrenden Vorwürfe ist schon problematisch. Auch wenn der Bundeskanzler, gegen den jetzt ermittelt wird, nicht dezidiert sagt, dass die WKStA politisch motiviert handelt: Bei seiner Darstellung, wonach die Anzeige gegen ihn politisch motiviert gewesen sei und nun gegen ihn ermittelt werde, ist genau das die Nachricht, die ankommt. Da muss man – auch wenn man sich nur verteidigt – vorsichtiger formulieren.

STANDARD: Apropos: Verteidigt Ministerin Alma Zadić die Justiz eigentlich laut genug?

Matejka: Sie hat sie immer wieder verteidigt, manchmal hätten wir in der Justiz uns schnellere und lautere und klarere Reaktionen erwartet. Aber da wird es wohl auch politische Erwägungen geben und eine gewisse Zurückhaltung in der Koalition.

STANDARD: Auch innerhalb der Justiz gibt es erstaunliche Entwicklungen. Gegen Sektionschef Christian Pilnacek und den Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien und Ex-Justizminister und VfGH-Mitglied Wolfgang Brandstetter wird wegen Verdachts auf Amtsmissbrauch ermittelt, zuvor gab es den öffentlich ausgetragenen Riesenkrach zwischen WKStA und Pilnacek bzw. Ministerium. Was löst das in der Justiz intern aus?

Matejka: Allein dass diese Vorwürfe im Raum stehen, war für alle extrem irritierend, und das Bild, das sich daraus ergibt, ist sehr schmerzhaft. Wir gehen natürlich davon aus, dass hohe Beamte in der Justiz wissen, wie man sich aus der politischen Debatte raushält und dass man sich von niemandem einspannen lässt. Obwohl diese Angelegenheit nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Strafjustiz betrifft, färbt der Imageschaden doch auf die gesamte Justiz ab.

Der Finanzminister lieferte die Akten an den Ibiza-U-Ausschuss erst, als schon beinah der Bundespräsident vor der Tür stand.
Foto: APA/Thomas Jantzen

STANDARD: Der Finanzminister hat das VfGH-Erkenntnis, wonach er dem U-Ausschuss Akten liefern muss, so lang ignoriert, bis der Bundespräsident fast schon Exekution geführt hat. Sind den Regierenden der Rechtsstaat und seine Institutionen nichts wert?

Matejka: Diese Vorgänge sind sehr bedenklich. Welches Bild gibt es ab, wenn Leute mit Regierungsverantwortung Entscheidungen des Höchstgerichts nicht oder nur unter massivem Druck befolgen? Und von einfachen Bürgern verlangen wir, dass sie sich rechtskonform verhalten und Urteile befolgen? Das zeugt von einem Mangel an Respekt gegenüber dem VfGH und somit dem Rechtsstaat. Hier sollte die Politik innehalten und überlegen, ob sie nicht eine neue Strategie sucht, die den Rechtsstaat intakt hält, auch wenn sie politische Interessen verfolgt.

STANDARD: Steckt System dahinter?

Matejka: Es sind viele kleine Bausteinchen, die dem Rechtsstaat schaden.

STANDARD: Könnte das der Beginn der Aushöhlung des Rechtsstaats sein wie in Ungarn oder Polen?

Matejka: Wir wissen aus diesen Ländern, dass so etwas geschehen kann. Österreich ist zwar nicht in einer vergleichbaren Situation, aber auch in Ungarn und Polen hat es mit kleineren Eingriffen in den Rechtsstaat angefangen, die sich dann summiert haben, und dann sind die Hemmungen gefallen. Die Erfahrung, dass das im 21. Jahrhundert mitten in der EU möglich ist und man dem nichts entgegensetzen kann, hat die Richterschaft sehr, sehr sensibel gemacht. Die Entwicklung im Nachhinein betrachtet zeigt, dass das überall passieren kann. Es gibt keine Insel der Seligen.

STANDARD: Geben bei uns genug Instanzen auf den Rechtsstaat acht?

Matejka: Es haben sich die schon genannten gewichtigen Persönlichkeiten zu Wort gemeldet, und unser Mediensystem ist intakt und kritisch. Letzteres ist in Polen und Ungarn nicht mehr der Fall. Solche Angriffe richten sich immer gegen Justiz und Medien gleichzeitig – und das ist das Gefährliche daran.

STANDARD: Noch kurz zum Untersuchungsausschuss. Manche ÖVP-Politiker können sich vorstellen, dort die Wahrheitspflicht für Auskunftspersonen abzuschaffen. Geht das?

Matejka: Ein U-Ausschuss würde dann keinen Sinn ergeben.

Der Vorsitzende des U-Ausschusses, Wolfgang Sobotka, hinterfragt die Wahrheitspflicht von Auskunftspersonen.
Foto: APA/Jäger

STANDARD: Vorgeschlagen wird da auch, dass künftig Richter den Vorsitz im U-Ausschuss führen sollen. Was halten Sie von dieser Idee, die die Gewaltenteilung durchbräche?

Matejka: Mich hat dieser Vorschlag sehr gewundert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Vertreter des Parlaments, also einer Staatsgewalt, sein Kontrollinstrument einer anderen Staatsgewalt, der Judikative, in die Hand legen möchte.

STANDARD: Die Justiz wurde fast ausgehungert, der damalige Justizminister Clemens Jabloner meinte 2019, sie sterbe einen stillen Tod. Türkis-Grün hat das Justizbudget 2020 erhöht, nach Corona werden die Gerichte wohl mit Klagen überschwemmt werden. Sind Sie dafür gerüstet?

Matejka: Was die Zukunft anlangt, sind wir eher pessimistisch. Es wird da sehr viel auf uns zukommen, nehmen Sie nur Insolvenzverfahren oder Verfahren, die daraus entstehen, dass Leute ihre Jobs und ihr Einkommen verloren haben. Das ist absehbar, es ist nur die Frage, wann diese Welle beginnt. Dafür braucht es neben dem nötigen Budget Planung und Vorausschau, umso mehr, als wir vor einer Pensionierungswelle stehen. Wir haben jetzt schon in manchen Sprengeln Probleme, Stellen zu besetzen – die Richterausbildung hat ja eine gewisse Vorlaufzeit. Und auch andere Bereiche suchen gute Juristen, wir werden um die guten Studienabsolventen und Juristen kämpfen müssen. Aber was Budget und Planung betrifft, sind wir vom politischen Willen abhängig – obwohl der Staat mit der Justiz Geld verdient, etwa aus Gerichtsgebühren. Man darf nie vergessen: Auch gute Personal- und Gerichtsausstattung gehört zur Unabhängigkeit der Justiz. Dreht man da an den entsprechenden Schräubchen, kann man ganz leicht Sand ins Getriebe der Justiz streuen. (Renate Graber, 20.5.2021)