Die Akustik im denkmalgeschützten Großen Schwurgerichtssaal ist notorisch schlecht. Bei einem Mordprozess gegen eine 72-Jährige führt das zu besonderen Herausforderungen.

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Wien – Vier Justizwachebeamte geleiten die Angeklagte Elisabeth S. in den Großen Schwurgerichtssaal vor das Geschworenengericht unter Vorsitz von Claudia Zöllner. Der Personalaufwand scheint übertrieben: S. ist 72 Jahre alt und humpelt, auf eine Krücke gestützt, langsam zum Anklagestuhl. Am 23. Jänner soll sie deutlich agiler gewesen sein: Der Staatsanwalt wirft ihr Mordversuch an ihrem 84-jährigen Ehemann vor. Mit einem Küchenmesser soll sie dem Gatten einmal in den Rücken und einmal in den Bauch gestochen haben, wodurch er schwer, aber zum Glück nicht lebensgefährlich verletzt wurde.

Der Knackpunkt des Verfahrens ist die rund zwei Zentimeter tiefe Stichwunde im Rücken des Opfers. Für das Verteidigerduo Zaid Rauf und Nikolaus Vogler handelt es sich dabei um einen "Kratzer", der irgendwie entstanden sein könnte. S. selbst sagt, sie habe überhaupt keine Erklärung dafür – sie habe ihrem Mann nur einen Bauchstich versetzt, damit der aufhört, sie zu schlagen. Für Ankläger Sherif Selim ist die Verletzung am Rücken dagegen der entscheidende Beweis, dass es sich eben nicht um Notwehr gehandelt habe.

Über 50 Jahre verheiratet

Die Pensionistin schildert die über 50 Jahre dauernde Ehe als furchtbar. Bereits wenige Jahre nach der Hochzeit und der Geburt des gemeinsamen Sohnes sei es zu Gewalt gekommen. Einen Vorfall Anfang der 90er fasst sie so zusammen: "Die Quintessenz ist, dass er mich von oben bis unten abgewatscht hat." – "Warum haben Sie das nicht angezeigt?", fragt Vorsitzende Zöllner. "Weil ich die Ehe aufrechterhalten wollte. Und gehofft habe, dass das nicht mehr vorkommt."

Laut S. war aber das Gegenteil der Fall, je älter der Mann wurde, desto gewalttätiger sei es zugegangen. "In letzter Zeit hat er mich sehr, sehr oft geschlagen", behauptet sie. "Er war nur mehr unleidlich, es ist nur mehr ums Geld gegangen." Sie habe eine größere Erbschaft gemacht und ihn vor einem Jahr als Verfügungsberechtigter gestrichen. "Ich wollte das Geld für das Alter aufheben, damit wir nicht irgendwo landen", erklärt sie. Davor habe sich all die Jahrzehnte Herr S. um die Finanzen gekümmert, daher könne sie auch nicht sagen, wie viel die gemeinsame 100-Quadratmeter-Eigentumswohnung in einem nördlich der Donau gelegenen Stadtbezirk wert sei.

"Dann hat das leider Gottes begonnen"

In dieser Wohnung kam es am Tatvormittag zu einer Auseinandersetzung, so viel steht fest. Die unbescholtene Angeklagte schildert es so: Sie sei zwischen 9 und 9.30 Uhr mit dem Hund Gassi gegangen. Als sie zurückkam, sei sie enttäuscht gewesen, dass ihr Ehemann noch kein Frühstück vorbereitet hatte – und artikulierte das. "Er hat mich dann angefahren, beschimpft, beleidigt. Dann hat das leider Gottes begonnen."

Der Mann sei vom Sofa aufgestanden und habe ihr feste Schläge auf Kopf und Schulter verpasst. "Wie viele?", fragt die Vorsitzende. "So 20", lautet die Antwort. Wenige Stunden später wurden im Krankenhaus allerdings keine Verletzungsspuren bei ihr gefunden. "Er hat mir nur auf die Haare geschlagen", antwortet S. auf diesen Vorhalt. Bei einem Größenunterschied von 30 Zentimetern würden feste Schläge aber sichtbare Folgen haben, ist Zöllner überzeugt. "Fest ist immer dehnbar", kontert die Angeklagte.

"Dann ist es mit mir durchgegangen", schildert S. weiter. Sie habe ein Messer liegen gesehen und ihrem Mann in den Bauch gestochen. Dann sei sie "entsetzt" gewesen. Ihr Mann habe sich aber wieder hingesetzt, und gemeinsam habe man beschlossen, vorerst keine Rettung zu verständigen und zu warten, ob die Blutung von allein stoppe. Kurz darauf sagt die Angeklagte auf eine Frage: "Na das ist doch selbstverständlich, dass ich die Rettung rufe, wenn etwas Schlimmes passiert ist!" – "Sie haben sie aber nicht gerufen!", reagiert die Vorsitzende. "Mein Telefon lag im Schlafzimmer", entschuldigt S. sich. "Das hätten Sie ja holen können!" – "Mein Mann hatte sein Handy neben sich liegen und sagte, er ruft sie selbst." Sie sei ins Schlafzimmer gegangen.

Erster Anruf an den Sohn

Laut Anklageschrift soll sie ihrem Mann aber weitere Stiche angedroht haben, sollte er einen Notruf wählen. Das Telefonverhalten des Mannes ist tatsächlich eigenartig. Um 10.27 Uhr rief er seinen Sohn an. Der rief zwei Minuten später zurück, der Vater erzählte laut Sohn lediglich, dass er verletzt sei, blute und jetzt nicht wisse, was er machen solle. Der Sohn riet ihm, einen Arzt zu verständigen. Damit ließ Herr S. sich Zeit – erst um 10.45 Uhr rief er den Polizeinotruf.

Woher die Stichwunde am Rücken ihres Gatten kommt, kann sich die Angeklagte überhaupt nicht erklären. Ein weiterer Punkt interessiert die Berufsrichter: der Alkoholkonsum der Angeklagten. Sie beteuert, keine Probleme diesbezüglich zu haben – pro Tag trinke sie ein oder zwei 0,33-Liter-Dosen. "Das habe ich nur getrunken, da mein Mann so garstig geworden ist", liefert sie als Grund.

Am Nachmittag vor der Tat habe sie eine Dose getrunken, die zweite im Verlauf der Nacht, wenn sie aufgewacht sei. Ein Alkovortest eine Stunde nach dem Vorfall ergab allerdings einen Wert von 0,3 Promille. Laut psychiatrischem Sachverständigen Peter Hofmann wäre dieses Resultat realistisch, wenn sie in der Früh oder beim Gassigehen eine Dose getrunken hätte. Hofmann stellt aber in seiner Expertise auch klar, dass S. keine Alkoholikerin sei – sie habe keine Entzugserscheinungen in der Untersuchungshaft gehabt.

Treueversprechen bis zum Tod

Eine weitere Frage des Gerichts an die Angeklagte lautet, warum sie bei ihrem Mann geblieben sei, wenn er sie jahrzehntelang misshandelt habe. "Ich habe meinem Mann versprochen, wir bleiben zusammen bis zum Ende", sagt S. und schluchzt. "Ist das Ihre erste Ehe?", fragt Staatsanwalt Selim in diesem Zusammenhang. "Nein, die zweite." – "Wie hat die erste geendet?" – "Weil ich mich scheiden habe lasse. Weil ich jung und dumm war." Sie war 18, Probleme habe es in dieser Beziehung keine gegeben.

"Sehen Sie, das verstehe ich nicht. Da gab es keine Probleme – und sie ließen sich scheiden. Und bei jemanden, der Sie angeblich jahrelang schlägt, bleiben Sie", kann der Ankläger es nicht nachvollziehen. Verteidiger Rauf versucht, dafür eine Erklärung zu liefern: "Würden Sie Ihren Ehemann als dominant und herrisch beschreiben?", fragt er die Angeklagte. "Sehr dominant", antwortet die 72-Jährige.

Als erster Zeuge erscheint der 47-jährige Sohn des Paares. Er unterstützt die Darstellung seiner Mutter: "Die Probleme sind in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Sie hat unter der Tyrannei meines Vaters gelitten", sagt der Bankangestellte. Die Mutter habe ihm auch immer wieder von den Schlägen berichtet, sein Vater habe die auch bestätigt. Eine körperliche Auseinandersetzung habe er zwar nie miterlebt, blaue Flecken und Kratzer bei seiner Mutter aber schon gesehen.

Wegschauen als Grundübel

Sowohl für Beisitzer Christoph Bauer als auch für den Staatsanwalt völlig unverständlich. "Warum rufen Sie nicht jedes Mal die Polizei? Das ist ein Grundübel, dass immer alle wegschauen", prangert der Ankläger an. Der Sohn sagt, er habe deeskalieren wollen, das Gespräch gesucht, das sei bei seinem Vater aber sinnlos gewesen. Auch er selbst sei als Kind geschlagen worden, erinnert er sich an einen Angriff.

Der Staatsanwalt hat noch eine Frage: "Stimmt es, dass Sie von Ihrer Mutter in Haft Geld geschenkt bekommen haben, um eine Wohnung zu kaufen?", fragt Selim den Zeugen. "Ja, das war ausgemacht. Ich habe sie besorgt und eingerichtet, damit sie nicht zu ihrem Mann zurückmuss, wenn sie herauskommt", sagt der Sohn. "Und wer ist Eigentümer dieser Wohnung?" – "Ich." Beisitzer Bauer zieht eine Urkunde aus dem Akt: "Das ist aber ein Blankoschenkungsformular, wo nur noch Summe und Unterschrift fehlt. Haben Sie das Ihrer Mutter ins Gefängnis geschickt?" Der Zeuge bestätigt das.

Wie viel Geld ihm die Mutter gegeben hat, will er zunächst nicht sagen, dann berichtet er, es seien 375.000 Euro gewesen. Vorsitzender Zöllner ist die Sache mit dem Wohnungskauf nicht ganz klar: "Sie haben vorher erwähnt, dass Sie selbst zwei Wohnungen haben. Wieso können Sie Ihre Mutter nicht in einer von diesen wohnen lassen, sondern kaufen sich eine dritte?" – "Die eine Wohnung liegt vier Stockwerke unter der meiner Eltern", sieht der Sohn darin zu wenig Abstand zum Vater.

Stehende Vorsitzende

Dieser kommt als zweiter Zeuge. Seine Einvernahme gestaltet sich schwierig. Herr S. ist schwerhörig, die Akustik im Schwurgerichtssaal notorisch schlecht. Die dem Infektionsschutz dienenden Plexiglasschilder vor dem Richtertisch verschärfen die Situation noch, sodass die Vorsitzende schließlich aufsteht und über das Schild hinweg ihre Fragen, so laut sie kann, stellt.

Bevor er welche beantwortet, legt der Zeuge aber seine Sicht auf die Familienkonstellation dar. "Das Problem ist: Mein Sohn ist ein ziemlich dominanter Mensch, der meine Frau ziemlich beeinflusst. Wenn man mit ihr an einem Tag was ausmacht, ist es am nächsten Tag um 180 Grad anders." S. ist überzeugt, dass sein Sohn bereits jetzt das Erbe der Mutter wolle und deshalb seine Verfügungsberechtigung zurückgezogen worden sei. "Ich bin da eher konservativ", stellt der Zeuge klar – Geld gäbe es erst nach dem Ableben.

Die Ehe sei eigentlich gut gewesen, nur der Alkoholkonsum der Gattin ein Problem. "Wenn man eine Frau hat, die tagtäglich trinkt, auch schon in der Früh, wird man schon ungehalten", gibt er zu. Regelmäßige Gewalt bestreitet er aber entschieden. Einmal, vor über 20 Jahren, habe er ihr bei einer Auseinandersetzung einen Kübel Wasser über den Kopf geschüttet. Und am Tattag habe er ihr eine Ohrfeige gegeben – nachdem sie ihn in den Rücken gestochen habe.

Erster Stich in den Rücken

Herr S. erzählt nämlich eine völlig andere Geschichte. Für den Richtersenat ist es abseits der Schallübertragungsprobleme schwierig, der zu folgen – der Zeuge hat nämlich Probleme damit, sie chronologisch zu erzählen und sagt bei vielen Fragen, er könne sich heute nicht mehr daran erinnern. Es kristallisiert sich schlussendlich Folgendes heraus: Erstmals behauptet S., er sei mit dem Hund draußen gewesen und habe seiner Gattin zwei Bier mitnehmen müssen. Als diese nach seiner Rückkehr eine Dose trinken wollte, habe er das abgelehnt, was zu einem Streit geführt habe. Als er an seinem Schreibtisch gestanden und Unterlagen sortiert habe, habe ihn die Frau ohne Vorwarnung von hinten gestochen.

"Bist Du verrückt geworden?", habe er gesagt und ihr die Ohrfeige gegeben. Da die Wunde nicht tief gewesen sei, habe er sich auf das Sofa gesetzt. Danach sei die Frau wieder gekommen und habe ihm dem Bauchstich versetzt. An das Telefonat mit dem Sohn kann sich Herr S. nicht mehr erinnern, dass er den Notruf gewählt hat, weiß er wieder. Ob ihn die Angeklagte davor mit einer Drohung gewarnt hat, kann er dagegen nicht mehr aus dem Gedächtnis abrufen.

Welche Version stimmt, ob der Verletzte beim fünf Zentimeter tiefen Bauchstich saß oder stand, kann auch Gerichtsmediziner Wolfgang Denk nicht beantworten. Allerdings hält er fest, dass der Angriff nicht mit sehr großer Wucht erfolgt sei.

Die Laienrichterinnen und Laienrichter folgen nach über zwei Stunden Beratung der Argumentation der Verteidiger, dass Frau S. ihren Mann nicht töten wollte. Vom Mordvorwurf wird sie einstimmig freigesprochen und der absichtlichen schweren Körperverletzung mit sechs zu zwei Stimmen verurteilt. Die rechtskräftige Strafe dafür: Drei Jahre Haft, eines davon unbedingt. (Michael Möseneder, 19.5.2021)