Bild nicht mehr verfügbar.

Jahrelang ging bei Wirecard alles nur bergauf. Die Umsätze, die Gewinne, der Börsenkurs. Dann zerplatzte der Traum – und eine Schattenwelt aus Scheingeschäften tat sich auf. Insider erzählen nun, wie das alles abgelaufen ist.

Foto: Getty Images / Lennart Preiss

Dashiell Lipscomb war Country Manager in Dubai für den deutschen Zahlungsdienstleister Wirecard, vor Ort die Einheit Wirecard Processing. Auch Oliver B. war für Wirecard in Dubai tätig und führte die zum Unternehmen gehörende Card Systems. "Niemand wusste genau, was bei Card Systems passiert, außer dass dort viel Umsatz gemacht wurde", sagt Lipscomb rückblickend. Card Systems sei immer eine mysteriöse Einheit gewesen.

B. zeichnete unter der Führung von Ex-Wirecard-Chef Jan Marsalek (auf der Flucht) für das sogenannte Dritt-Partner-Geschäft verantwortlicht. Größter Partner dafür war Al Alam in Dubai. Dass in den Büros vor Ort keine einzige Person arbeitete, erklärte B. Lipscomb damit, dass das nur eine Firmenadresse sei. Die Leute säßen auf den Philippinen.

Viel fragen sollte Lipscomb nicht. Er wurde Wirecard-intern gewarnt: "Du willst nicht wissen, was B. macht. Du willst nicht wissen, wozu du vor Gericht aussagen müsstest." B. wird als "Jans Mann fürs Grobe" beschrieben.

Eine Schattenwelt

Seit mehr als zwei Jahren sorgt der Fall Wirecard für Schlagzeilen. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen des Verdachts auf organisierten Bandenbetrug und Bilanzfälschung. Ex-Chef Markus Braun sitzt in U-Haft; für ihn und alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss versucht ebenfalls, Licht in die dunklen Geschäfte zu bringen.

Die Dokumentation Wirecard – Die Milliarden-Lüge von Sky und rbb/ARD (ab 20. Mai auf Sky abrufbar) zeigt nun, wie dieser Finanzskandal abgelaufen ist. Jono und Benji Bergmann holen jene drei Whistleblower vor den Vorhang, die maßgeblich dazu beigetragen haben, das System Wirecard aufzubrechen. Sie geben Einblick in eine Welt der Schattenwirtschaft und berichten davon, wie Informanten von Wirecard bedroht wurden.

Viel Luft in Dubai

Eine Lektion, die auch Lipscomb zu spüren bekam. Denn er blieb neugierig. Es gab viel, das der Australier bei Wirecard nicht verstand. Bis er eines Tages in das Büro von B. zitiert wurde. Dort lag seine Kündigung samt Bedrohung, man könne ihn wegen finanziellen Fehlverhaltens anzeigen. Dann wurde Lipscomb aus dem Büro eskortiert.

Der Wirecard-Ableger Card Systems in Dubai gilt als zentrale Schaltstelle im Wirecard-Bilanzskandal.
Foto: AFP / Giuseppe Cacae

Später stieg Lipscomb ein in die Aufklärung der Vorfälle und brachte entscheidende Hinweise darauf, dass es im Dritt-Partner-Geschäft sehr oft keine Kunden gegeben hätte. Wirecard müsse also Geld erfunden haben, so seine Conclusio. Tatsächlich geht die Münchner Staatsanwaltschaft mittlerweile davon aus, dass die von B. geführte Dubai-Tochter die zentrale Rolle spielte bei dem im Bilanzskandal wichtigen Asiengeschäft. B. hat sich nach der Wirecard-Insolvenz gestellt und gilt nun als Kronzeuge in dem Fall.

Schöner Schein in Singapur

"Du weißt nicht, was hier los ist", sagte Wirecard-Mitarbeiter Edo K., ohne den im Raum Asien-Pazifik kein Deal abgesegnet wurde, einst zu Pav G., der in Singapur Senior Legal Counsel bei Wirecard war. G. sollte noch herausfinden, was K. damit meinte. Denn es kam G. komisch vor, dass die Profite bei Wirecard im Laufe der Zeit immer stiegen, wo doch die Tochterfirmen im asiatisch-pazifischen Raum nur Verluste machten.

Bei Geschäftsreisen mit Edo K. wurde das zum Thema. Antworten bekam G. nicht. "Edo hielt sich immer vage in seinen Aussagen", sagt G.. Er habe jedoch damit geprahlt, dass seine Frau aus einer Drogenhändlerfamilie in Jakarta komme. "Es kommt vor, dass wir bei Wirecard Menschen verschwinden lassen", zitiert G. Ex-Kollegen Edo K., der seit dem Fall von Wirecard untergetaucht ist.

Luftbuchungen

Wie also konnte Wirecard seine Gewinne steigern? G. dachte, das müsse mit den Geschäften von Edo K. zu tun haben und folgte seinem Instinkt. Er fand eine Vertraute in der Region, die bereits genaue Aufzeichnungen über die Scheingeschäfte geführt hatte. Gefälschte Rechnungen und Kontoauszüge, in denen Überweisungen an Unternehmen aufgetaucht waren, zu denen Wirecard gar keine Geschäftsbeziehung hatte, lagen nun vor G. "Sie erfinden Zahlen und blasen die Umsätze auf", sagte die Vertraute zu G. Man kenne die Firmen nicht, diese seien wohl erfunden.

An die Zentrale in Deutschland brauche man sich gar nicht zu wenden, dabei würde nichts rauskommen. In Deutschland wisse man darüber Bescheid. Marsalek wisse darüber Bescheid. Sie seien es, die hinter dem System stecken, so G.s Informantin.

Reise ohne Rückfahrschein

G. probierte es dennoch und rief die Kollegen aus der Rechtsabteilung in Deutschland an. Diese sagten ihm, er solle alles zusammentragen, was er kann. Sie kämen nach Singapur. Vor allem Marsalek, der für diese Region verantwortlich war, soll explodiert sein wegen der Vorwürfe. Dann bekam G. die Nachricht, dass es für ihn gelaufen sei und Marsalek die weitere Aufklärung übernehme.

G. erzählt in der Dokumentation, dass man sich erst sein Schweigen erkaufen wollte, letztlich wurde er bedroht. Weil er nicht lockerließ, drängte man ihn zu einer Geschäftsreise nach Jakarta – ohne geschäftlichen Anlass. Es war G.s Mutter, die ihrem Sohn letztlich den Pass abgenommen hat, um diese Reise zu verhindern. Zwei Tage vor der Abreise im Mai 2018 bekam G. eine Nachricht aus München: "Geh nicht, das ist eine Reise ohne Rückfahrschein."

Der Zatarra-Report

Heiß wurde den Ex-Wirecard-Chefs bereits 2016. Damals tauchte der mittlerweile vielzitierte Zatarra-Report im Internet auf. Ein Dokument, anonym erstellt, das Ungereimtheiten beim Zahlungsdienstleister aufzeigte. Der Verdacht auf Geldwäsche, Scheingeschäfte und aufgeblasene Umsätze stand damit im Raum. In der Dokumentation bricht auch Matthew Earl von Shadowfall Capital sein Schweigen und outet sich als Autor des Reports. Earl deckte damals auch auf, dass Wirecard bereits 2010 mit den US-Behörden wegen Geldwäscheverdachts im Clinch lag. Es folgte, was scheinbar im Wirecard-Handbuch im Kapitel für kritische Geister vorgesehen war: Earl wurde überwacht, und das ließ man ihn auch wissen. Bis eines Tages zwei Männer in dunklen Anzügen vor seiner Tür auftauchten. Earl kontaktierte daraufhin die Whistleblower-Hotline der Bafin. Die Folge: Die Behörde ermittelte gegen Earl, nicht aber gegen Wirecard.

Die Aufarbeitung

Lipscomb, G. und Earl konnten nicht glauben, dass all ihre Informationen über die Missstände und mutmaßlichen Betrügereien bei Wirecard bei den zuständigen Behörden verpufften. Es war G.s Mutter, die nach einem Schlaganfall beschloss, dass sie keinen Frieden finden würde, bevor diese Vorgänge nicht öffentlich gemacht würden. Sie kontaktierte die Investigativjournalistin Clare Brown, die wiederum die "Financial Times" ins Boot holte, die bereits über die Vorgänge bei Wirecard berichtet hatte.

In Singapur fand Pav G. jene Informationen, die den deutschen Zahlungsdienstleister letztlich zu Fall gebracht haben. Dazu zählten gefälschte Rechnungen und Kontoauszüge, in denen Überweisungen an Unternehmen aufgetaucht waren, zu denen Wirecard gar keine Geschäftsbeziehung hatte.
Foto: imago images/Olaf Schuelke

Nach der diesbezüglichen Berichterstattung stellte Markus Braun die Vorkommnisse als Einzelfall dar. Die Bafin folgte Brauns Argument, dass diese Vorfälle in Singapur spielten und mit dem Unternehmen in Deutschland nichts zu tun hätten. Und wieder: Die Bafin ermittelte gegen den FT-Journalisten und verbot Shortselling für die Wirecard-Aktie.

Das Ende

Wirecard-intern wurden nun auch Zweifel laut. Der Druck auf Wirecard stieg. Investoren wurden nervös. Ebenso der Wirtschaftsprüfer EY. KPMG wurde an Bord geholt für eine Sonderprüfung. Nach sechs Monaten stellte KPMG fest, dass man nicht sagen könne, ob es das Dritt-Partner-Geschäft je wirklich gegeben habe. Da platzte der Traum vom erfolgreichen Zahlungsdienstleister. Ein Anruf bei einer Bank auf den Philippinen machte klar, dass die von Wirecard angegebenen 1,9 Milliarden Euro dort nicht lagen. Damit war das Spiel aus, Wirecard brach zusammen und meldete am 25. Juni 2020 Insolvenz an.

Marsalek wurde zuletzt gesehen, als er im Juni 2020 die Wirecard-Zentrale in Aschheim verlassen hat. Er wollte sich auf den Weg machen, um zu klären, wo das Geld geblieben ist. Seither fehlt von ihm jede Spur. Ungeklärt ist, warum die Behörden den Hinweisen nicht nachgegangen sind. Das Argument, man habe keine ausreichende Verdachtslage gehabt, scheint nach den Worten von G., Lipscomb und Earl kaum mehr glaubhaft. (Bettina Pfluger, 19.5.2021)