Mehrere Wirecard-Mitarbeiter haben gemerkt, dass es bei bestimmten Geschäften nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Sie haben versucht, sich Gehör zu verschaffen. Bei Wirecard, bei der deutschen Aufsicht Bafin, bei der Münchener Staatsanwaltschaft. Vergebens. In der Dokumentation Wirecard – Die Milliarden-Lüge sprechen drei Informanten erstmals über ihre Erlebnisse. Die Dokumentation von Sky und RBB/ARD ist seit Donnerstag auf Sky abrufbar.

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Die Wiener Filmemacher Jono und Benji Bergmann haben jene Whistleblower vor den Vorhang geholt, die den Skandal rund um Wirecard maßgeblich aufgedeckt haben. Ihre Dokumentation Wirecard – Die Milliarden-Lüge lässt jene Protagonisten zu Wort kommen, die bisher nicht gehört wurden. Zu Hause sind die Bergmann-Brüder auf der ganzen Welt. So fand auch dieses Interview statt. Ein Gespräch zwischen Tel Aviv, Griechenland und Wien.

STANDARD: Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit Wirecard?

Jono Bergmann: Seit circa einem Jahr. Unmittelbar nach dem Crash von Wirecard hat uns die Produzentin Gabriela Sperl angerufen und gefragt, ob wir mit ihr was über Wirecard machen wollen. Wir waren damals beide noch in New York und hatten uns mit dem Thema noch gar nicht auseinandergesetzt. Ich glaube, wir hatten bis dahin noch nicht einmal etwas davon gehört. Ich zumindest.

Benji Bergmann: Im Rückblick war das vielleicht auch besser so. Wir hatten damals die gleiche Distanz zu dem Thema, wie sie die meisten Zuseher haben werden.

STANDARD: Wann war Ihnen klar, was für eine Doku Sie machen wollen? Gab es einen ausschlaggebenden Moment, ein Schlüsselereignis?

Benji Bergmann: Naheliegend wäre die Antwort: als wir erfahren haben, dass die zwei Hauptakteure im Wirecard-Fall auch zwei Österreicher sind. Aber ehrlich gesagt war das nicht so. Als wir unsere Protagonisten auf der ganzen Welt kennengelernt haben, war uns sofort klar, dass wir eine Doku machen wollen, die sich nicht nur mit dem Finanzdrama, sondern mit den menschlichen Dramen auseinandersetzt.

Jono Bergmann: Der Whistleblower Pav Gill hat uns seinen gesamten E-Mail- und SMS-Verkehr mit seinen Mitarbeitern zugeschickt. Da entdeckten wir eine Zeile aus Shakespeares Macbeth: "Fair is Foul, and Foul is Fair" – also gerecht ist schlecht, und schlecht ist gerecht. Gill hat diesen Zustand – diese auf den Kopf gestellte, verdrehte Welt – mit seinen Erfahrungen bei Wirecard verglichen. Vereinfacht: wo die Guten die Bösen waren und die Bösen die Guten.

Benji Bergmann: Dieser Satz beschreibt für uns die Seele des Films besser und tiefer als gefälschte Bilanzen und schwindlige Finanztransaktionen.

STANDARD: Wie ist es Ihnen gelungen, an die Whistleblower zu kommen?

Jono Bergmann: Der Erstkontakt mit den Whistleblowern in Singapur ging über Gabriela, die dieses Projekt auf die Beine gestellt und uns dann ins Boot geholt hat. Im Laufe der Arbeit haben wir weitere wichtige Figuren kennengelernt. Bei vielen war es ein Hin und Her, ob sie überhaupt in der Doku offen reden wollen. Es war viel Überzeugungsarbeit nötig.

Benji Bergmann: Unsere Aufgabe war, nach dem ersten Kontakt diese Verbindung weiter zu pflegen – über viele Monate hinweg. Es hat teils sehr lange gedauert, ihr Vertrauen zu gewinnen und ihnen das Gefühl zu geben, dass ihr Coming-out bei uns in guten Händen ist.

STANDARD: Die Whistleblower berichten in der Doku auch davon, wie sie von Wirecard-Mitarbeitern bedroht wurden. Hat das Umfeld von Wirecard mitbekommen, dass Sie eine Doku drehen? Wurden Sie auch bedroht? Versuchte man Sie zu stoppen?

Jono Bergmann: Aktiv wurden wir nie bedroht.

Benji Bergmann: Wir waren sehr darauf bedacht, wenig über den Film und unsere Figuren preiszugeben, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aus diesem Grund mussten wir auch sehr schnell agieren. Markus Braun (Ex-Wirecard-Chef, in U-Haft, Anm.) übrigens weiß sicher von dem Projekt, und ich gehe davon aus, dass Jan Marsalek (Ex-Wirecard-Chef, auf der Flucht, Anm.) es auch tut – wo auch immer er ist.

Jono Bergmann: Ob sie im Moment nicht an anderen Dingen interessiert sind, ist eine andere Frage.

STANDARD: Haben Sie durch Ihre umfangreichen Recherchen zu dem Fall eine Idee, wo sich Jan Marsalek aufhält?

Benji Bergmann: Wahrscheinlich in Südostasien. Oder doch irgendwo auf einem Bauernhof in Niederösterreich? Egal wo er ist, er hält sich wohl aus Eigennutz brav an die lokalen Lockdown-Regeln.

Jono Bergmann: (lacht) Er war zufällig mal neben mir am Schlepplift, und als ich ihn gefragt habe, ob er bei unserer Doku mitmacht, hat er genickt. Aber es war nur ein Traum.

STANDARD: Was hat Sie beim Drehen am meisten beeindruckt oder überrascht?

Jono Bergmann: Das Durchhaltevermögen und der Mut unserer Protagonisten.

Benji Bergmann: Je weiter wir als Team vorgeprescht sind, desto mehr mussten wir eigentlich auch nach hinten schauen. Viele stürzen sich nur auf die letzten Monate der Wirecard, auf die erfundenen Geschäfte und das verschwundene Geld. Aber genau genommen reicht die Wirecard-Story ja schon 20 Jahre zurück. Das ist die wahre Geschichte: dass es so lange gutgehen konnte.

Jono Bergmann: Das Interessante bei der Wirecard-Story ist auch, dass eigentlich die meisten über Jahre hinweg Gewinner waren. Deswegen konnte es auch so lange gutgehen. Heute haben die meisten verloren. Einzig bei unseren Protagonisten ist das umgekehrt.

Benji Bergmann: Jetzt sind wir wieder beim zentralen Thema der verdrehten Welt.

Benji (links) und Jono Bergmann haben den Finanzskandal bei Wirecard aufgearbeitet und erzählen ihn durch die Augen der wichtigsten Hinweisgeber.
Foto: Privat

STANDARD: Sie berichten in Ihrer Dokumentation ja auch über eine Reihe von Bad Guys, die für Wirecard tätig waren. So erzählt etwa ein Boxer, dass er von Wirecard-Mitarbeitern angerufen und geholt wurde, wenn es Probleme gab. Seine Aufgabe war es, Leute einzuschüchtern. Haben Sie die Befürchtung, dass Sie nach der Ausstrahlung auch Besuch bekommen?

Jono Bergmann: Physische Angst, nein.

Benji Bergmann: Beim Drehen waren aber die typischen Ängste von Filmemachern da: Wird Jan Marsalek plötzlich auftauchen und alles über den Haufen schmeißen? Überlegt es sich einer unserer Informanten doch noch inmitten vom Dreh? Schaffen wir es, eine hochkomplexe Finanzstory fesselnd in 90 Minuten zu erzählen? Diese Ängste sind aber zugegebenermaßen lächerlich im Vergleich zu den Ängsten, die unsere Protagonisten über Jahre hinweg erleiden mussten und zum Teil immer noch tun.

STANDARD: Was erwarten Sie sich, dass nach der Ausstrahlung passiert?

Jono Bergmann: Wir erwarten uns nichts. Wir erhoffen uns, den richtigen Zuschauer zu finden, der sich möglicherweise in einer ähnlich gravierenden Situation wie Pav Gill befindet und aus seiner Story wie auch denen der anderen Mut schöpft.

Benji Bergmann: Wir erwarten, dass die Whistleblower endlich als Zeugen angehört werden. Das wäre mal ein guter Anfang vom Ende.

STANDARD: Wie haben die involvierten Behörden – Staatsanwaltschaft München, die deutsche Finanzaufsicht Bafin – auf Ihre An- und Nachfragen reagiert?

Jono Bergmann: Kaum bis gar nicht.

Benji Bergmann: Überraschend war das aber nicht.

STANDARD: Wie lange haben Sie gedreht, bis sie die Geschichte im Kasten hatten?

Jono Bergmann: Bis vor ein paar Wochen. Wir mussten zum Teil parallel drehen und schneiden, um auf laufende Entwicklungen noch einzugehen.

Benji Bergmann: Aber okay, Doku machen ist immer eine Frage der Improvisation. Und das gilt natürlich in Corona-Zeiten umso mehr.

Jono Bergmann: Benji und ich hatten aber echt ein tolles Team, auf das wir uns immer verlassen konnten. Sky und die ARD waren eine Riesenunterstützung.

STANDARD: Wie sehen Sie die Rolle der Whistleblower generell? Auch wenn man bedenkt, was Wikileaks-Gründer Julian Assange oder Ex-CIA-Mitarbeiter Edward Snowden der Welt mitgeteilt haben? Deren Leben wurde damit nicht leichter.

Benji Bergmann: Das sind alles unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Motive und natürlich auch unterschiedliche Charaktere. Aber in einem Punkt vielleicht doch vergleichbar, nämlich in der Frage, die sich auch der Zuseher stellt: Was hätte ich in seiner Situation getan?

Jono Bergmann: Im Fall von Pav Gill zum Beispiel war es ja so, dass es sein Job als Senior Legal Counsel war, Missstände bei Wirecard aufzuspüren. Erst als ihm niemand zugehört hat und er bedroht wurde, hat er begriffen, dass er an die Öffentlichkeit gehen muss.

STANDARD: Der Fall Wirecard ist hochkomplex. Da spielen Finanzdelikte, behördliches Versagen und wohl auch die Politik eine wesentliche Rolle. Wie haben Sie den roten Faden gefunden, der durch die komplexe Geschichte führt?

Benji Bergmann: Die Kunst beim Filmemachen besteht, glaube ich, darin zu wissen, was man nicht erzählt. Wenn man versucht, es jedem recht zu machen, macht man es niemandem recht. Und schon gar nicht dem Thema des Films.

Jono Bergmann: Für uns war wichtig, dass wir die Geschichte durch die Augen der Whistleblower erzählen.

STANDARD: Was machen Sie als Nächstes? Gibt es schon ein neues Projekt, an dem Sie arbeiten?

Jono Bergmann: Unsere Doku über den kanadischen Designer Bruce Mau läuft derzeit bei Festivals auf der ganzen Welt. Und wir schließen gerade eine animierte Doku ab, die von Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs handelt.

STANDARD: Sie sind Brüder und arbeiten auch zusammen. Wie sieht diese Zusammenarbeit aus? Wird da am Set und im Schneideraum auch viel gestritten?

Benji Bergmann: Wir führen Co-Regie, produzieren zusammen, streiten miteinander, der eine beendet dann auch manchmal den Satz des anderen.

Jono Bergmann: Diesmal war ich aber zu spät. (Bettina Pfluger, 20.5.2021)