Vincent Bueno startet heute für Österreich mit "Amen".

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Die strengen Corona-Regeln der niederländischen Organisatoren konnten den befürchteten Ausfall eines Kandidaten beim diesjährigen Eurovision Song Contest nicht verhindern. Erwischt hat es ausgerechnet den Beitrag aus dem Land mit den geringsten Inzidenzen: Ein Mitglied der isländischen Gruppe Daði og Gagnamagnið wurde positiv auf Covid-19 getestet. Daði Freyr ist der eigentliche Interpret des Beitrags, denn die Gruppe spielt nur auf Fantasieinstrumenten und besteht aus seiner schwangeren Frau und Freunden. Die anderen Mitglieder wurden negativ getestet. Auf einen Liveauftritt wird trotzdem solidarisch verzichtet. Es wird am Donnerstagabend der Probenauftritt eingespielt. Da Island zu den Favoriten zählt, wohl auch am Finalabend am Samstag.

Für Österreich wird es heute ernst. In den Wettquoten wandert Österreich seit einigen Tagen zwischen Platz zehn und elf. Tatsächlich gibt es neben rund fünf klaren Favoriten ein breiteres Feld von einigermaßen okayen Songs, die es alle schaffen oder scheitern könnten.

Hier die Startreihenfolge mit meiner Einschätzung und dem, was die Buchmacher mit Stand Donnerstag, 9.30 Uhr sagen. Zehn Acts kommen weiter und dürfen am Samstag im Finale auftreten, sieben müssen wieder nach Hause fahren.

1. San Marino: Senhit – Adrenalina

Die PR-Maschinerie des Mikrostaats funktionierte unfassbar gut, und offenbar gibt es da einen finanzstarken Sponsor dieses Beitrags. Als Plattenfirma wird Panini genannt, dort wird man den Geldgeber wohl vermuten dürfen. Seit einem Jahr beglückt die Italienerin Senhit ihre Fangemeinde mit Coverversionen aus der ESC-Geschichte. Und dann kam im Frühjahr der Song raus. Bamm! Flo Rida, US-Starrapper, gastiert. Bis zuletzt ließ Senhit offen, ob der Superstar auf der ESC-Bühne auftreten wird oder nicht. Flo Rida oder No Rida? Das war Gesprächsthema Nummer eins rund um den Auftritt. Spoiler: Er wird auftreten. "Adrenalina" ist eine sicher einfach gestrickte Uptempo-Nummer, aber eine mit sehr sehr hohem Unterhaltungswert.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 6

Die italienische Sängerin Senhit singt für San Marino.
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2. Estland: Uku Suviste – The Lucky One

Ein schöner Mann steht einsam auf der Bühne und singt ein tragisches Liebeslied, knöpft sein Hemd ein bisschen auf, damit man seine schönen Brusthaare ein bisschen anhimmeln darf, und singt währenddessen das langweiligste Lied des heutigen Abends, das man beim letzten Ton dann auch wieder vergessen hat.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 13

3. Tschechien: Benny Cristo – Omega

In seiner Heimat kann der Singer-Songwriter, Schauspieler und Bronzemedaillengewinner im Jiu-Jitsu, Benny Cristo, Stadien füllen. Er singt eine sehr tanzbare Uptempo-Nummer, die fröhlich, bunt und cool umgesetzt wurde. Er versprüht die gute Laune nur so. Eignet sich mehr als Radiohit und womöglich weniger als Wettbewerbsbeitrag. Denn der große ESC-Nachteil: Der Song beginnt und setzt sich ohne größere Wechsel gleichmäßig fort.

Mein Tipp: leider raus

Buchmacher: Platz 15

4. Griechenland: Stefania – Last Dance

Der griechische Beitrag könnte auch von Limahl gesungen worden sein. So rund um 1984. Es ist aber die erst 19-jährige Stefania Liberakakis, die in den Retrosong gesteckt wurde. Anreisen muss sie nicht weit. Sie wurde in eine griechische Familie in Utrecht geboren, wo sie immer noch lebt. Die Inszenierung spielt mit Green Screen und tollen Effekten, das Lied bleibt aber recht mittelmäßig. In den Wettquoten wird der Song recht hoch gehandelt, warum, weiß ich nicht.

Mein Tipp: Wackelkandidatin

Buchmacher: Platz 5

5. Österreich: Vincent Bueno – Amen

Er kam als Außenseiter nach Rotterdam, doch die Inszenierung mit viel Lichtregie und kaum LED-Schnickschnack wirkt sehr stimmig. Der Song ist eine hymnische Midtempo-Nummer, die Vincent sehr emotional vorträgt. Es geht darum, Schicksalsschläge zu akzeptieren. Seine Stimme war in jeder Probe in Höchstform. Ob das Lied zündet, bleibt abzuwarten. Durchaus möglich, dass die europäischen Jurys das ebenso mögen wie einst Cesár Sampson. Bei der Probe am Mittwoch, in der die Jurys ihre Punkte abgeben, war er enorm stark.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 10

6. Polen: Rafał – The Ride

Nicht nur Rotterdam will sich bei diesem ESC präsentieren, sondern offenbar auch Warschau. Die Stadt ist bei diesem Beitrag ständig eingeblendet, ohne dass man wüsste, warum. Rafał ist in Polen ein bereits bekannter Sänger und moderierte den Junior Eurovision 2020 sehr sympathisch. Dass er in dieser 80er-Nummer lieber unsympathisch und mit Sonnenbrille auftreten will, ist nicht ganz nachvollziehbar. Nach Griechenland die nächste Erinnerung an die 80er. Später gesellt sich Dänemark noch beim Nostalgie-Semifinale dazu.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 16

7. Moldau: Natalia Gordienko – Sugar

Als das moldauische Video erschien, traute man seinen Augen nicht. Da wurden Zuckergüsse und Naschereien zelebriert, dass man einen Schock bekam. Der vom russischen ESC-Veteranen Philipp Kirkorow geschriebene Song wirkt aber auf der Rotterdamer Bühne recht blutleer. Natalia Gordienko wäre 2020 mit einer elegant gesungenen Ballade an den Start gegangen. Man wird das Gefühl nicht los, sie wurde vom Sender in ein anderes Image gesteckt. Beim Jury-Finale sang sie überraschend falsch.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 11

8. Island: Daði og Gagnamagnið – 10 Years

Daði Freyr aus Island, 2,07 Meter groß, hätte wohl den Eurovision Song Contest 2020 gewonnen. Er war mit "Think About Things" schon vorab so ein haushoher Favorit wie einst Loreen mit "Euphoria". Der Song wurde trotz der Absage des ESC ein weltweiter Hit. Kein Künstler musste also so hohe Erwartungen erfüllen wie er. "10 Years" ist eine der schönsten Liebeserklärungen in der ESC-Geschichte, gewidmet von Daði an seine Frau. Der Isländer bleibt seiner Linie treu und überzeugt mit seinem ganz besonderen, eigenen Stil eines augenzwinkernden nerdigen Elektropops. Egal ob live oder vom Band.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 3

Achtung, aktuelle Ergänzung:

Auch den Sieger von 2019 hat es erwischt. Duncan Laurence trat im ersten Halbfinale auf, um den ESC 2021 zu eröffnen. Der Höhepunkt wäre aber seine Einlage am Finalabend gewesen, der findet aber nicht statt, denn Duncan Laurence wurde heute, Donnerstag, positiv getestet. Die Veranstalter haben aber angekündigt, dass er in anderer Form teilnehmen wird.

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Daði og Gagnamagnið starten für Island.
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9. Serbien: Hurricane – Loco Loco

Hurricane ist eine Girl-Band, und aufmerksame ESC-Zuseher werden Sanja Vučić wiedererkennen. Sie vertrat Serbien bereits 2016 und schaffte Platz 18. "Loco Loco" hat zwar einen spanischen Titel, wird aber serbisch gesungen. Der Song ist recht banal, aber eingängig. Bei den Proben klangen die drei Stimmen live nicht immer harmonisch, aber dafür wird die Windmaschine ideal eingesetzt. Langhaarige Girl-Bands schreien ja danach. Der Song ist trotzdem recht laut und hyperventilierend.

Mein Tipp: Wackelkandidatinnen

Buchmacher: Platz 8

10. Georgien: Tornike Kipiani – You

Was Tornike mit diesem Song beim Eurovision Song Contest beabsichtigt, ist ein Rätsel. 2020 wäre er mit seiner beeindruckenden Rockröhre wohl als eine der besten männlichen Stimmen gehandelt worden. Für 2021 komponierte er dann diesen geradezu provozierenden, entschleunigten Song. Bei den Proben sang er "You" mit merkwürdiger Lustlosigkeit und oft neben den Tönen. Und wenn man dann hofft, der Song möge sich steigern, setzt er sich erst mal hin. Bei den Pressekonferenzen wurde sein eher bescheidenes Englisch deutlich. Dies erklärt wohl auch seine Songwritingqualitäten. "Sunshine, I wanna touch you, Wind blow, I wanna see you".

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 17

11. Albanien: Anxhela Peristeri – Karma

Wer dramatische Balkanballaden vermisst, wie wir sie in den 2000er-Jahren aus Serbien oder Bosnien und Herzegowina bekamen, für den springt Albanien in die Bresche. Hier wird die Windmaschine nicht ironisch wie beim isländischen Beitrag eingesetzt. Die meinen das ernst! Anxhela Peristeri singt ihre mit orientalisierenden Klängen aufgemotzte Ballade mit sicherer Bombenstimme, aber sehr, sehr langweilig inszeniert. So was hat in Europa aber immer einige Anhänger. Sollten Sie zu Hause übrigens ein Trinkspiel veranstalten, lohnt sich dieses Jahr ein Schluck bei "silbernes Fransenkleidchen". Davon wimmelt der diesjährige Contest nur so.

Mein Tipp: Wackelkandidatin

Buchmacher: Platz 9

12. Portugal: The Black Mamba – Love Is On My Side

Portugal nimmt seit 1964 am Song Contest teil, und immer wurde portugiesisch gesungen. Zum allerersten Mal riskiert es das Land, einen englischsprachigen Song zu entsenden. Das wunderbar instrumentierte Liedchen gefällt durch seine Einfachheit. Die nasale Stimme von Sänger und Songwriter Pedro Tatanka ist allerdings Geschmackssache. Die Inspiration vom Song stammt aus Amsterdam, weswegen man die Stadt auch in den LED-Grafiken eingeblendet sieht. Eine osteuropäische Sexarbeiterin erzählte Tatanka ihre Lebensgeschichte und betonte, dass Liebe immer auf ihrer Seite gestanden sei. Das inspirierte Black Mamba zu diesem Song. Eine niederländische Tageszeitung hat schon einen Aufruf gestartet, um die Sexarbeiterin zu finden. Noch wurde sie nicht gefunden.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 7

Jetzt mal Kritik an der Regie: Man lost die Startnummern ja nicht mehr aus, damit es mehr dramaturgische Abwechslung gibt. Warum dann vier ruhige bis langweilige Nummern hintereinander programmiert wurden, ist mir ein Rätsel.

13. Bulgarien: Victoria – Growing Up Is Getting Old

Victoria sitzt auf einer Insel, besingt das Älterwerden und all die Schmerzen und Hoffnungen, die das Erwachsenwerden mit sich bringt, sitzt dabei auf einer Insel und sorgt für den Billie-Eilish-Moment in Rotterdam. Uhrenticken gestaltet den Rhythmus des Songs. Das teilweise etwas gesäuselte Singen ist derzeit sehr modern und passt sehr gut zu diesem mit Orchesterklängen instrumentierten, schönen Song mit einer starken Steigerung und einem leisen Abgang, der trotzdem wirkt.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 2

14. Finnland: Blind Channel – Dark Side

Finnland nennt ihren Musikstil "Violent Pop", aber man kann getrost Nu Metal sagen. Der Song klingt sehr stark nach Linkin Park, eingängig und headbangig. Er erfüllt auch brav alle Klischees, die man von Metal haben will. Rote Inszenierung, lange Haare, ein Text, der zur dunklen Seite verführen will. Nur blöd, dass dann im Finale mit Italien der viel bessere und originellere Song dieses Musikstils auf Finnland wartet. Aber fürs Finale wird das reichen. Finnland hat ja gute Erfahrungen mit Hard Rock ("Hallelujah").

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 4

15. Lettland: Samanta Tina – The Moon Is Rising

Aminata kennt man noch vom Wiener Song Contest, als sie mit ihren wummernden Beats und "Love Injected" auftrat. Seitdem hat sie mehrmals für lettische Künstler ESC-Songs geschrieben, so auch für Samanta Tina, die es zigmal in Vorausscheidungen probierte und es endlich geschafft hat, die Eurovisionsbühne zu betreten. "The Moon Is Rising" hat zwar interessante Ansätze, etwa den aus Stimmen gestalteten Rhythmus, aber es wirkt dann doch recht sperrig.

Mein Tipp: raus

Buchmacher: Platz 14

16. Schweiz: Gjon's Tears – Tout l'univers

Der Schweizer mit kosovarisch-albanischen Wurzeln schafft es sofort, den Zuhörer in den Bann zu ziehen. Er gilt als einer der Titelanwärter des diesjährigen Eurovision Song Contest. Gjon Muharremaj ist ausgebildeter klassischer Musiker und hatte viele Erfolge in Talenteshows in Albanien, der Schweiz und Frankreich. Sein Gesangsstil ist tatsächlich sehr speziell und hat einen hohen Wiedererkennungswert. "Tout l'univers" wurde von denselben Leuten geschrieben, die 2019 mit "Arcade" für die Niederlande gewinnen konnten. Das hört man auch. Die Inszenierung ist sehr umstritten. Vor allem in der Schweiz wird die künstlich anmutende Performance heftig kritisiert. So sphärisch-verträumt sein Lied auch ist, in Rotterdam entpuppte sich Gjon als Instagram-Ulknudel, die für jeden Spaß zu haben war.

Mein Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 1

Gjon’s Tears aus der Schweiz ist der Favorit bei den Buchmachern.
Foto: EPA

17. Dänemark: Fyr og Flamme – Øve os på hinanden

Ist das Parodie, oder meinen sie das ernst? Man kommt einfach nicht drauf. Völlig hemmungslos wird hier ein Song auf die Bühne gebracht, als würden wir den Eurovision Song Contest 1985 schauen, und Modern Talking stürmt weltweit die Charts. Die einen lieben es, die anderen hassen es. Ingeborg-Bachmann-Preisträger und bekennender ESC-Fan Tex Rubinowitz hat mir erzählt, dies sei heuer sein Lieblingsbeitrag. Meiner ist es nicht. Ganz und gar nicht. Aber wurscht ist "Øve os på hinanden" niemandem, es ist bestimmt der polarisierendste Beitrag dieses Semifinales. Ins Finale schafft er es vielleicht, denn nach all der Trübsal und den dunklen Seiten zuvor werden das viele als erleichternd wahrnehmen.

Mein Tipp: Wackelkandidaten

Buchmacher: Platz 12

(Marco Schreuder, 20.5.2021)