Es ist das Wort "traumatisch", das Juan Francisco Valle am häufigsten benutzt. Seit der Taucher der spanischen paramilitärischen Guardia Civil am Dienstag ein Baby aus den Grenzgewässern zwischen Marokko und der spanischen Exklave Ceuta retten konnte, reißen die Interviewanfragen nicht mehr ab. Auf allen großen Nachrichten-Websites ist das Foto zu sehen, das Valle zeigt, wie er das Baby über Wasser hält, während er sich selbst auf einen Rettungsring stützt und Richtung Land schwimmt. Die Guardia Civil verbreitete das Foto, das längst viral ging, auf ihrem Twitter-Account.

Die Macht der Bilder: Das von der Guardia Civil verbreitete Foto der Rettungsaktion eines Säuglings vor Ceutas Küste ging viral.
Foto: EPA/GUARDIA CIVIL

"Ich sah das Baby – so blass und so regungslos, sodass ich gar nicht wusste, ob es ihm gutging oder nicht", erinnert Valle sich an den Einsatz. Er gehörte zu jener Gruppe von Polizisten und Soldaten, die in den vergangenen Tagen verzweifelt versuchten, einen bis dahin nie dagewesenen Ansturm von Flüchtlingen und Migranten zu bewältigen.

Über 8.000 Menschen umschwammen den weit ins Wasser reichenden Grenzzaun und den Grenzdamm, die das nordafrikanische Königreich Marokko von der spanischen Garnisonstadt Ceuta trennen. Unter ihnen waren 1.500 Minderjährige, die meisten unbegleitet. Während die marokkanischen Grenzpolizisten tatenlos zuschauten, waren auf der spanischen Seite Valle und seine Kollegen "zehn bis 15 Stunden pausenlos im Wasser".

Schwimm! Schwimm! Schwimm!

"Mein Kollege Braulio und ich dachten zuerst, dass die Frau da im Wasser einen Rucksack auf dem Rücken hatte – aber bei einer der Bewegungen merkten wir plötzlich, dass es ein Baby war, das sie auf den Rücken geschnallt hatte", erinnert sich Valle. Braulio kümmerte sich um die Frau, die kaum schwimmen konnte, Valle um das Baby. "Es war kalt, nass – und es bewegte sich nicht", erinnert sich der Rettungsschwimmer.

"Ich wusste nicht, ob es noch lebte oder schon tot war. Das Einzige, was mir durch den Kopf ging, war: ‚Schwimm! Schwimm! Schwimm!‘ Mit aller Kraft, um so schnell wie möglich an die Küste zu gelangen", erzählt Valle im spanischen Staatsfernsehen RTVE.

An Land kümmerten sich die Sanitäter um die beiden, denen es Medienberichten zufolge mittlerweile wieder gutgeht. "Es gab viele Eltern mit Kindern, Babys, aber auch ältere Menschen, denen es richtig schlechtging", erinnert sich der Beamte.

Doch längst nicht alle Rettungseinsätze endeten dieser Tage so gut wie diese Aktion. Das wohl schlimmste Erlebnis an jenem Tag war der Tod eines Menschen, der ebenfalls versuchte, Ceuta schwimmend zu erreichen. "Leider haben wir eine Person verloren. Wir haben ihn einfach nicht gesehen. Es kamen so viele Menschen gleichzeitig vorbei, dass es unmöglich war", trauert Valle, der in den Medien und sozialen Netzwerken als Held gefeiert wird.

Das vielgeteilte Foto dieser Rettung lässt aber auch an die ikonografische Aufnahme der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer denken, sie entstand vor fünf Jahren am Strand von Bodrum: ein ertrunkenes Kind, Alan Kurdi aus Syrien. Das Bild schockierte die Welt und blieb politisch doch folgenlos.

Shitstorm für Helferin

Ein anderes aktuelles Foto zeigt eine Kehrseite der sozialen Medien. Auch dieses zeigt Verzweiflung und Rettung – und doch erntet es Kritik. Zu sehen ist eine der Sanitäterinnen, die am Ufer die Flüchtlinge versorgten. Die junge Rotkreuzhelferin Luna Reyes Segura hält, so ist zu sehen, einen ebenfalls jungen Schwarzen im Arm. Er ist völlig erschöpft, die Tränen stehen ihm in den Augen. Reyes Segura versucht den Mann zu trösten, ihm Halt zu geben, während ihre Kollegen verzweifelt versuchen, einen Freund von ihm wiederzubeleben. Wird auch Reyes Segura als Heldin gefeiert? Nein, im Gegenteil: Binnen Minuten wurde sie, in diversen sozialen Medien mit Hasspostings überschüttet, zum Opfer eines rassistischen Shitstorms, der selbst vor Morddrohungen nicht haltmachte. Die junge Frau legte in der Folge alle ihre Profile in den fraglichen Netzwerken still.

Dem verzweifelten Mann und der Rotkreuzhelferin, die ihn tröstet, schlug ein rassistischer Shitstorm entgegen.
Foto: EPA/Reduan

"Ich habe ihn doch bloß umarmt", wiederholt die Rotkreuzfrau immer wieder in einem Exklusivinterview mit dem Sender RTVE, noch bevor sie der Meute im Internet zum Opfer fiel. Es sei doch "die normalste Sache der Welt, jemanden zu umarmen, der um Hilfe bittet", fügte sie unter Tränen hinzu. Das wollten aber bei weitem nicht alle so sehen. (Reiner Wandler aus Madrid, 20.5.2021)