Pav Gill, ehemaliger Leiter der Rechtsabteilung von Wirecard Asien. Allen Einschüchterungsversuchen von Wirecard zum Trotz hat er jene Malversationen öffentlich gemacht, die er beim Zahlungsdienstleister vorgefunden hatte. Das waren letztlich jene Beweise, die das Kartenhaus zum Einsturz brachten.

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Pav Gill (37) kam 2017 zu Wirecard. Als Leiter der Rechtsabteilung in Asien war es seine Aufgabe, darauf zu achten, dass alles mit rechten Dingen zuging. Doch schon wenige Wochen nach seinem Start war ihm klar, dass sich einiges bei Wirecard nicht ausgeht. Er fragte sich etwa, warum Wirecard immer nur steigende Umsätze und Gewinne auswies, wo doch alle Töchter im asiatisch-pazifischen Raum Verluste schrieben. Er erkannte, dass zumindest Teile des Asiengeschäfts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Antworten von anderen hochrangigen Mitarbeitern in der Region bekam er nicht.

Doch Gill fand eine Vertraute in der Region, die Belege für seinen Verdacht auf den Tisch legte. Gefälschte Rechnungen und Kontoauszüge, in denen Überweisungen an Unternehmen aufgetaucht waren, zu denen Wirecard gar keine Geschäftsbeziehung hatte, lagen nun vor Gill. Zu diesem Zeitpunkt dachte er noch, seinen Job gut zu machen, weil er auf betrügerische Machenschaften gestoßen war. Bei Wirecard in München hörte man sich das zwar interessiert an. Doch rasch zog man Gill von der Aufarbeitung ab, darum wollte sich fortan Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek (auf der Flucht) kümmern, dem das Asiengeschäft unterstellt war.

Weil Gill das nicht hinnehmen wollte und weiter Fragen stellte, wurde er aus dem Unternehmen gedrängt. Gills Mutter Evelyn beschloss, gemeinsam mit ihrem ihr sehr nahestehenden Sohn, die Vorfälle öffentlich zu machen. Das brachte Gill, seiner Mutter und dem involvierten Journalisten der "Financial Times", Dan McCrum, Ungemach ein. Gegen McCrum wurde ermittelt, Gill bedroht. Im Zuge der Dokumentation "Wirecard – Die Milliarden-Lüge" von Sky und RBB/ARD wagt er sich nun dennoch aus der Deckung.

DER STANDARD hatte die Möglichkeit, Pav und Evelyn Gill via Mail Fragen zu stellen.

STANDARD: Sie haben mit Ihren Recherchen die Machenschaften von Wirecard aufgedeckt und blieben lange anonym. Warum haben Sie sich dazu entschieden, jetzt aus der Anonymität herauszukommen?

Pav Gill: Ich glaube, jeder sollte die Wahrheit darüber wissen, wer hinter der Aufdeckung dieses kriminellen Unternehmens steckt und was nötig war, um das zu erreichen. In empfehle jedem, sich den gerade veröffentlichten Dokumentarfilm auf Sky anzuschauen. Das Team hat wirklich einen unglaublichen Job gemacht, um hinter die Kulissen zu blicken und zu zeigen, was hier alles passiert ist. Es war eine große Herausforderung für mich, mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich habe Wirecard zu Fall gebracht, und der Ansatz der Doku, die Geschichte durch die Augen jener zu erzählen, die sich gegen den Wind gestellt haben, hat mich überzeugt.

STANDARD: Welche betrügerischen Strukturen haben Sie bei Wirecard bemerkt? Wann war Ihnen klar, dass da etwas nicht stimmt?

Pav Gill: Innerhalb von zwei bis drei Wochen nach dem Eintritt in die Wirecard war mir bereits klar, dass dieses Unternehmen nicht so geführt und betrieben wurde, wie man es von einem milliardenschweren, börsennotierten Unternehmen erwarten würden.

STANDARD: In der Doku gibt es einen brisanten Punkt. Es geht dabei um eine Reise nach Jakarta, zu der Wirecard Sie gedrängt hat, nachdem Ihr wichtigster Kollege für das Asiengeschäft, Edo K., betont hatte, dass seine Frau aus einer Drogenhändlerfamilie aus Jakarta kommt. Im Film wird der Eindruck erweckt, dass Sie die Reise nach Jakarta antreten wollten. Warum? Was dachten Sie, was dort passieren würde?

Pav Gill: Ich wollte diese Reise nicht antreten, da es keine glaubwürdigen Gründe dafür gab. Das Unternehmen bestand jedoch darauf, dass ich diesen Trip mache – noch in derselben Woche, im selben Monat oder sogar zwei Monate später. Wichtig war ihnen nur, dass ich gehe. Das hat mich stutzig gemacht, weil Edo K. ja mehrmals erwähnt hatte, dass sein Schwiegervater ein Drogenhändler in Jakarta war und dass Wirecard dafür bekannt war, "Menschen verschwinden zu lassen". Meine Mutter, die alleinerziehend ist und deren einziges Kind ich bin, nahm mir dann meinen Pass weg, weil sie vermutete, dass sie mich dorthin schickten, um mich loszuwerden. Das wurde dann durch zwei Telefonanrufe aus München bestätigt. Ich wurde darauf hingewiesen, dass es sich tatsächlich um ein One-Way-Ticket handelte, weil ich mich weigerte, "ihr Spiel mitzuspielen". Nachdem ich mich geweigert hatte, nach Jakarta zu fliegen, wurde ich in den folgenden Tagen aus der Firma gezwungen.

STANDARD: Wurden Sie nach Ihrem Ausscheiden aus Wirecard weiterhin eingeschüchtert oder unter Druck gesetzt?

Pav Gill: Ja, unerbittlich. Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle "an meine Mutter denken" und "wachsam sein", nachdem die ersten drei Artikel von der "Financial Times" veröffentlicht wurden.

STANDARD: Haben Sie heute noch Angst?

Pav Gill: Nein. Angst ist eine Krankheit, die nicht Vorrang vor Integrität und Mut haben sollte, wenn es darum geht, das Richtige zu tun.

STANDARD: Wie sind Sie mit der Angst umgegangen, die bei Ihren Bemühungen, die Vorfälle aufzudecken, ein ständiger Begleiter gewesen sein muss? Sie haben ja auch bemerkt, dass Sie beobachtet worden sind.

Evelyn Gill: Ich glaube fest an die Kraft aufrichtiger Gebete und Segnungen, und das gab mir tatsächlich die Hoffnung, dass letztendlich alles gut wird, auch wenn wir aus dem lebenslangen Kampf hervorgehen.

STANDARD: Sie haben sich entschieden, die Investigativjournalistin Clare Brown zu kontaktieren. War Ihr Sohn davon auch von Beginn an so überzeugt wie Sie?

Evelyn Gill: Sowohl Pav als auch ich haben im Laufe der Jahre viel Bewunderung und größten Respekt für Clares Arbeit entwickelt. Wir haben gesehen, dass sie eine mutige, ehrliche und professionelle Journalistin mit Integrität ist. Pav vertraute ihr instinktiv, und er war wie ich sofort bei dieser Idee an Bord. Clare hat uns nicht ein einziges Mal enttäuscht. Sie war immer da, um zuzuhören, und war sehr beschützerisch, obwohl sie nichts davon hatte, uns zu helfen.

STANDARD: Gegen den "Financial Times"-Journalisten Dan McCrum wurde ermittelt, andere Informanten wurden von Wirecard bedroht – hatten Sie jemals das Gefühl, es wäre besser gewesen, einfach zu schweigen?

Pav Gill: Ja, oft sogar. Aber jemand musste aufstehen und den Schritt wagen.

STANDARD: Wie haben Sie es geschafft, den Mut nicht zu verlieren und trotz aller Bedrohungen die Vorgänge ans Licht zu bringen?

Evelyn Gill: Ich bin ein Sikh, und wir glauben, dass die Wahrheit unzerstörbar und ewig ist. Wir lernen ständig den Wert der Wahrheit, den Sieg der Wahrheit über die Lügen, der wahren Demut über das Ego und den Stolz, und wenn wir die Wahrheit in jeder unserer Handlungen ehren, werden wir letztendlich in diesem Leben und darüber hinaus belohnt. Wir brauchen jedoch viel Geduld und einen sehr starken Glauben und die Überzeugung, dass die Wahrheit letztendlich alle anderen notwendigen Übel überwinden wird und der Sieg uns gehören wird. Ich bin mir auch sehr bewusst, dass es kein Zufall war oder ist, dass Menschen ausgewählt werden, um die Wahrheit zu enthüllen. Nur diejenigen, die allen Schmerzen und Kämpfen standhalten und sich trotz aller Hindernisse weigern aufzugeben, sind diejenigen, die durch Schicksal oder Karma auserwählt werden, um die Lügen und das Böse aufzudecken.

STANDARD: Ihre Gesundheit wurde durch die Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen. Sie hatten einen stressbedingten Schlaganfall. Wie geht es Ihnen heute?

Evelyn Gill: Ja, all das hat meine Gesundheit belastet. Mein starkes, aktives und energetisches Selbst ist nicht mehr so wie früher. Ich habe das jedoch als neue Normalität in meinem Leben akzeptiert und mich entsprechend angepasst. Auf den ersten Blick sehe ich sehr stark und gesund aus, aber innerlich ist es nicht dasselbe wie zuvor. Das heißt, Wirecard hat es vielleicht geschafft, meiner Gesundheit Schaden zuzufügen, aber es ist ihnen nicht gelungen, meinen starken Geist zu töten.

STANDARD: Die Beziehung zu Ihrem Sohn ist sehr eng. Haben die Vorgänge bei Wirecard das beeinflusst? Haben Sie heute noch Angst um ihn?

Evelyn Gill: Pav und ich hatten immer eine enge Beziehung und stehen uns immer noch nahe. Wirecard hat das nicht geändert, außer dass Pav seit meiner Krankheit sehr beschützerisch geworden ist und es jetzt eine umgekehrte Rolle ist, da er jetzt mehr wie ein Elternteil als wie ein Sohn ist. Eltern werden immer Angst um ihre Kinder haben, und natürlich habe ich Angst um ihn. Aber ich zwinge mich, diese Angst bewusst in Glauben umzuwandeln, dass er immer beschützt wird.

STANDARD: Konnten Sie alle Erfahrungen, die Sie bei Wirecard gemacht haben, verarbeiten?

Pav Gill: Ja. Ich schaue von jeher eher vorwärts als rückwärts.

STANDARD: Was, glauben Sie, wäre passiert, wenn Sie Wirecard nicht zu Fall gebracht hätten?

Pav Gill: Ich glaube, dann wäre es einfach noch eine Zeitlang so weitergelaufen. Es gab ja das Projekt "Panther" – also den Plan von Wirecard, die Deutsche Bank zu übernehmen. Wäre das geglückt, wäre alles irgendwann so verwoben gewesen, dass es wohl unmöglich gewesen wäre, das alles noch aufzuklären.

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass die Behörden Sie noch nicht als Zeugen hinzugezogen haben?

Pav Gill: Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas erklären kann, was die Vollzugsbehörden und Aufsichtsbehörden bis heute getan haben. Das müssen diese selbst beantworten.

STANDARD: Was fühlen Sie heute, wenn Sie an alles denken, was passiert ist, und wissen, dass mit Markus Braun ein Ex-Manager von Wirecard in U-Haft sitzt, das Unternehmen zusammengebrochen ist? Dass der Betrug vorbei ist?

Pav Gill: Ich bin froh, dass ein offensichtlich kriminelles Unternehmen geschlossen wurde. Trotzdem bin ich weiterhin besorgt, da viele Akteure, die hier wissentlich und übel mitgespielt haben, noch auf freiem Fuß sind. Es bleibt abzuwarten, ob das Rechtssystem funktioniert und sie für ihre Handlungen voll zur Rechenschaft gezogen werden.

STANDARD: Was machen Sie jetzt?

Pav Gill: Ich bin Chief Legal Officer bei Zipmex, einer Börse für digitale Assets. Es ist bei weitem eines der besten Unternehmen, für die ich je gearbeitet habe. Ich bin dankbar, mit einem Senior-Management-Team zusammenzuarbeiten, das Recht und Compliance bei allem, was es tut, in den Vordergrund stellt. Insbesondere in dem kontroversen und sich weiterentwickelnden Umfeld für digitale Assets.

STANDARD: Sie haben in der Dokumentation gesagt, dass Sie keinen Frieden finden werden, bis die Vorgänge rund um Wirecard und das, was Ihrem Sohn angetan wurde, öffentlich gemacht werden. Haben Sie nun Ihren Frieden mit der Sache gefunden?

Evelyn Gill: Ja, ich habe meinen Frieden jetzt gefunden, da Wirecard endlich entlarvt wurde. Wir waren jedoch auch sehr besorgt um die vielen unschuldigen Wirecard-Mitarbeiter, die in der Folge des Zusammenbruchs ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt verloren haben. Wir sind aber dankbar dafür, dass viele wieder einen Job gefunden haben. Meine inbrünstigen und herzlichen Gebete für sie wurden erhört. (Bettina Pfluger, 21.5.2021)