Bild nicht mehr verfügbar.

Jörg Lauster vergleicht den Heiligen Geist mit dem Wind. Man spürt ihn, obwohl man ihn nicht sieht.

Foto: Picturedesk.com / PhotoResearchers / Alan & Sandy Carey

Aus der scheinbar zufälligen Anordnung von Atomen entsteht durch Evolution in Jahrmillionen menschliches Ich-Bewusstsein. Fähig, seine eigene Existenz zu hinterfragen und nach letzten Ursachen zu suchen: Wer bin ich, warum gibt es mich, wozu bin ich auf der Erde? Religionen und Ideologien versuchen Antworten auf diese Fragen. Antworten, die Sinn stiften und Trost spenden sollen – und nicht selten in Katastrophen münden.

Bei all dem bleibt die Menschwerdung ein unbegreifliches Wunder, für dessen Erklärung eine zufällige Konstellation von Materie schwerlich reicht. Wie kann es sein, dass aus lebloser Materie Geist erwächst? Oder verhält es sich genau umgekehrt: Ist es Geist, der die Materie formt? Woher aber kommt dieser Geist?

Gott und das Wort

Das Johannesevangelium bietet allen, die glauben oder glauben wollen, eine Antwort an: Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott.Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. (...) Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohntund wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.

Das Wort war Gott: Gott ist also Geist. Im Verständnis von Christen manifestiert sich der göttliche Geist in der Person Jesu. Er ist das fleischgewordene Wort, das den Menschen sagt, worauf es in ihrem Leben ankommt. Der Heilige Geist ist somit der Angelpunkt der Dreifaltigkeit.

Kein Wunder, dass die Amtskirchen seit jeher mit ihm Probleme hatten, dass Pfingsten als Fest der Erscheinung des Heiligen Geistes nur den dritten Rang unter den kirchlichen Festen einnimmt (außer bei den Pfingstlern, für die das mystische Erfahren des Heiligen Geistes im Zentrum steht). Denn der Geist entzieht sich per definitionem einer Institutionalisierung. Er weht, wo und wann er will, unter Glaubenden und Atheisten.

Grundsympathie

Umso interessanter muss der Versuch erscheinen, eine "Biografie" des Heiligen Geistes zu schreiben. Der deutsche evangelische Theologe Jörg Lauster hat sich als Erster darauf eingelassen, und das Ergebnis ist so bemerkens- wie lesenswert. Streckenweise ist das Buch keine leichte Kost, besonders dort, wo es für den Laien eher um theologische Spitzfindigkeiten geht.

Insgesamt aber beeindruckt Lauster mit einem breiten, unvoreingenommenen Blick auf das Phänomen, das den Lauf der Welt bestimmt und dennoch so schwer zu fassen ist. Deshalb wird der Heilige Geist, den man auch Weltgeist nennen kann, am treffendsten mit dem Wind verglichen: Man spürt ihn, obwohl man ihn nicht sieht.

Unübersehbar ist Lausters Grundsympathie für seinen Titelhelden. Sie drückt sich auch in den ausgewählten Illustrationen quer durch die Kunstgeschichte aus – allein schon ein Beweis für die Wirkungsmächtigkeit des Geistes.

Vorwegnahme des Paradieses

Als eine der zentralen Figuren für das Verständnis dieser Wirkungsmacht ortet Lauster den postjesuanischen Apostel Paulus. Für ihn ist die Auferstehung Jesu als physisch-historisches Faktum uninteressant. Vielmehr bedeutet sie eine existenzielle Haltung, in der der Geist Christi fortwirkt.

Die frühe Kirche verstand sich denn auch als Resultat der "Einwohnung" des Geistes und strebte nach sozialer Harmonie ohne Herrschaftshierarchien und Machtausübung – quasi als Vorwegnahme des Paradieses. In seinem berühmten Hohelied der Liebe im 1. Korintherbrief hebt Paulus die Liebe als höchste Erscheinungsform des Geistes hervor.

Das ist die Essenz der christlichen Botschaft. Dass sie in ihrem eigenen Namen so oft missachtet und verraten wurde und bis heute wird – siehe Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche –, kann nicht gegen die Botschaft, wohl aber gegen ihre Verwalter verwendet werden. Zu dem – nicht nur daraus resultierenden – gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirchen liest man Erstaunliches aus der Feder eines Theologen.

Variationen der Hoffnung

In Bezug auf den Geschichtsphilosophen Hegel schreibt Lauster: "Der als Säkularisierung beschriebene Rückzug der Kirchen aus Politik und Gesellschaft ist darum nicht ein Verlust, sondern ein Gewinn an Geist. Der Geist zieht hinein in die Welt. Es geht nicht um Entweltlichung, sondern um ,Einweltlichung‘." Hegel erhebt laut Lauster Menschen zu den "Geschäftsführern des Weltgeistes".

Mit einigen Herausragenden unter ihnen, Christen wie Nichtglaubenden, befasst sich der Autor näher. Zu Martin Luther Kings Rede "I Have a Dream" nach dem Marsch der Bürgerrechtsbewegung auf Washington am 28. August 1963 zitiert er Kings Ehefrau Coretta Scott: "An diesem Tag war uns allen, als kämen seine Worte von einem höheren Ort, als sprächen sie durch Martin zu den beladenen Menschen vor ihm. Der Himmel selbst tat sich auf, und wir alle schienen verwandelt."

Man kann freilich nicht behaupten, dass der Heilige Geist seither viel unternommen hat, um Kings Traum wahr werden zu lassen. Aber vielleicht rekrutiert er aus der Black-Lives-Matter-Bewegung soeben neue Geschäftsführer.

Mystische Erfahrung

Václav Havel, der verfolgte Dissident in der kommunistischen Tschechoslowakei und spätere Staatspräsident, war kein gläubiger Mensch im religiösen Sinn. In der Haft machte er eine Art mystischer Erfahrung, die er in einem Brief an seine Frau Olga so beschrieb: "Ich war durchflutet von einer Art höchst glücklichem Einklang mit der Welt und mit mir selbst (...). Ich würde sogar sagen, dass darin auch ein ,Schlag der Liebe‘ war – ich weiß nicht genau, zu wem oder was. (…)

Es gibt offenbar eine Erfahrung, in der es ist, als ob sich auf reifste und ganzheitlichste Weise das Sehnen des getrennten Seins nach neuem Verschmelzen erfüllt. Diese Erfahrung ist typisch und zutiefst menschlich: Es ist die Erfahrung des Sinnes und des Sinnvollen."

Aus späterer Zeit ist von Havel einer seiner berühmtesten Aussprüche überliefert: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."

Hoffnung ist für Lauster "eine der vornehmsten Wirkweisen des heiligen Geistes", "heilig" diesmal klein geschrieben. Er spricht damit auch fehlgeleitete Hoffnung durch vermeintlich heilsbringende Utopien an, die in Tyrannei und Massenmord endeten. Ist auch hier der "heilige" Geist am Werk, mit Geschäftsführern à la Hitler und Stalin? Kann man darin irgendeinen Sinn erkennen? Die Antwort fällt indirekt aus, aber ganz im Sinne Havels.

Verzweiflung als Sünde

Alle Sünden würden den Menschen vergeben, sagt Jesus im Matthäusevangelium. Außer einer: jener wider den Heiligen Geist. Worin aber diese Sünde besteht, sagt Jesus nicht. Lausters Interpretation, zu der er über Thomas von Aquin und andere Theologen des Mittelalters gelangt: Die Sünde wider den Heiligen Geist schlechthin ist hoffnungslose Verzweiflung.

Verzweiflung sei Tat des Menschen, "weil sie die eigene Urteilskraft über das viel größere Geheimnis des Lebens stellt. Sie ist Tat des Menschen, weil sie die Gegenwart des göttlichen Geistes prinzipiell und von vorneherein ausschließt. Sie ist Tat des Menschen, weil sie dem Unerwarteten, dem Schöpferischen, dem zum Guten sich wendenden Plötzlichen und Überraschenden im Lauf der Dinge und im Gang eines Lebens keine Chance lässt."

Dass diese Sünde nicht vergeben werden kann, liegt auf der Hand: Sie trägt die Strafe schon in sich. Doch es gibt scheinbare Sünder wider den Heiligen Geist, die sich, völlig überraschend, als seine Geschäftsführer entpuppen. Albert Camus behandelt in seinen Werken das Absurde der menschlichen Existenz, also die zwanghafte Suche nach einem Sinn, den es für ihn nicht gibt.

In der Pest aber, Camus’ berühmtestem Buch, das in der Pandemie jetzt wieder zum Bestseller wurde, kommt der Arzt und Atheist Rieux zu dem Schluss, dass sich das Absurde des Daseins nur mit tätiger Nächstenliebe überwinden lässt und "dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt". Wo man im Wissen um das Weltbild des Autors Verzweiflung oder zumindest Resignation erwarten müsste, leuchtet Zuversicht auf. Der Geist weht, wo er will. (Josef Kirchengast, 23.5.2021)