Marco Schreuder sprach mit Expertinnen und Experten darüber, was eine Siegernummer ausmacht.

Die Frage ob es eine Formel zum ESC-Sieg gibt fragten sich auch schon Forscher. Etwa die, die mit künstlicher Intelligenz arbeiten. Also speisten sie einen Computer mit allen Faktoren und Songs und ließen ihn den idealen ESC-Song komponieren. Heraus kam der Song "Blue Jeans and Bloody Tears".

Sweaty Machines

Aber hätte der Song wirklich gewonnen? Kaum anzunehmen. Zudem dürfte der Song gar nicht antreten, da er länger als drei Minuten dauert.

Jedes Jahr grübeln die Sender Europas und Australiens wieder und wieder, wie man den Gewinnersong finden kann. Manche probieren es mit nationalen Vorentscheidungen, andere wiederum suchen intern aus. Die einen setzen auf Songwriting Teams und Camps und suchen dann dafür den geeigneten Interpreten – vorzugsweise aus einem der tausenden Casting-Shows. In diesem Fall fällt dann oft das Wort "Schwedenpop" (solche Beispiele gibt es aber auch aus Bulgarien/Österreich, Griechenland oder Russland).

Andere wiederum wollen Kunst auf die Bühne stellen, Künstler die selber Musik machen und oftmals schon ein ordentliches Repertoire aufbieten können. Das Festival di Sanremo etwa setzt immer auf solche Acts und schickt daher auch immer Künstler, die bereits Alben und Touren vorweisen können zum Eurovision Song Contest. Dieses Jahr etwa Glamrock.

Ich habe mich mal umgehört und mehreren Menschen folgende zwei Fragen gestellt:

1. Was muss ein Eurovision Song Contest-Beitrag können um in einem Reigen von 26 Songs in Erinnerung zu bleiben?

2. Es gewannen unzählige und unterschiedliche Beiträge. Von Hard Rock bis zu jazzigen Balladen, von Bond-Hymnen bis Dancefloor-Brettern. Gibt es etwas, das all diese Sieger eint?

Cesár Sampson

nahm 2018 beim ESC teil und wurde mit "Nobody But You" Dritter.

1. Einen starken Refrain, einen auffälligen oder sonst hervorragenden Sänger und etwas Individuelles.

2. Ich würde sagen, nein! Was den Sieger jedes Mal ausmacht, ist wahrscheinlich das einzig völlig Unberechenbare am Song Contest. Selbst wenn man vor Ort dabei ist und die Lieder tagtäglich hört, wird einem oft erst am Tag des Finales klar, wer gewinnen wird. Es ist ein bisschen magisch.

Alina Stiegler

ist TV-Moderatorin des NDR und wurde vor allem als ESC-Songcheck-Moderatorin bekannt.

Foto: NDR/Claudia Timmann

1. Es gibt zwei Erfolgsgarantien. Erstens, ein guter Song – und weil das so schwer ist, zweitens, Mut zum Polarisieren. Alle Songs, an die wir uns erinnern, waren entweder genial oder sie waren auf einer Ebene kontrovers.

2. Die schönsten Gewinner-Songs wurden nicht für den ESC geschrieben. Das ist ihr Geheimnis. Sie hatten ein Momentum. Waren zur richtigen Zeit, am richtigen Ort mit dem richtigen Lied. Toto Cotugno sang, überwältigt von den politischen Ereignissen, von einem geeinten Europa, "Insieme" und traf damit ins Herz vieler Europäerinnen. Der Portugiese Salvador Sobral war bei den Proben nicht mal anwesend, tauchte erst zum Halbfinale in Kiew auf und verzauberte mit seiner unangepassten Magie ohne Vorwarnung 200 Millionen Menschen an einem Abend. Und Dana International nutzte mit "Diva" die ESC-Bühne für mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit von Trans-Personen. Und das eint diese Gewinner, sie wurden nicht auf ESC getrimmt. Sie waren ganz bei sich selbst – und dem Publikum.

William Lee Adams

ist Blogger der Seite Wiwibloggs, die sich zur größten und beliebtesten News-Seite rund um den Eurovision Song Contest entwickelte.

1. Du brauchst einen Höhepunkt. Menschen suchen immer etwas, womit sie sich identifizieren können, dem sie sich nahe fühlen. Mit der Ukraine 2016 war es dieser wachsende Baum auf der Bühne just in dem Augenblick, als sie die emotionalen Parts sang, bei Conchita 2014 hatte man den absoluten Höhepunkt mit den Feuerflügeln am Ende, du hast den Jungen und den Ballon bei Måns Zelmerlöw 2015 in Wien gehabt. Du musst diesen Moment einer emotionalen Verbindung zwischen Künstler und Zuschauer kreieren, um in Erinnerung zu bleiben.

2. Ich glaube, was alle Songs eint, ist, dass sie vom Herzen kommen. Salvador Sobral ließ sich auf der Bühne einfach gehen, Jamala glaubte man ihre Trauer, bei Conchita merkte man, dass sie für so viele Menschen sang und nicht nur für sich selbst. Das ist wohl, was alle Gewinner eint.

Stella Jones

nahm 1995 für Österreich beim ESC teil. Der Song hieß "Die ganze Welt dreht sich verkehrt" und wurde 13.

Foto: Elena Shirin

1. Ich finde, das Publikum sollte Spaß haben und sollte seine Emotionen in der Musik widergespiegelt erleben können. Der Song sollte ehrlich und authentisch vorgetragen werden, abwechslungsreich sein und durch einen selbstbewussten Sänger oder Sängerin mit Freude vermittelt werden.

Egal ob eine Ballade oder feuriger Pop-Song, wichtig ist eine abwechslungsreiche Harmoniefolge, damit man nicht Gefahr läuft, innerhalb der drei Minuten Spieldauer der langweilig zu werden. Tonwechsel und extra Teile (Bridge) sind immer "Hingucker", beziehungsweise "Hinhörer" und werten einen Song enorm auf.

2. Ich persönlich freue mich bei neuen Songs immer auf Abwechslung und spannende Harmoniefolgen, denn die drei Minuten beim Song Contest bedeuten, dass man das Publikum auf eine abenteuerliche Fantasiereise mitnehmen darf und auf dieser Reise sollte es einige musikalische Überraschungen geben, dann erinnert man sich umso lieber an die vielfältigen emotionalen Erlebnisse zurück, die man beim Hören miterleben durfte.

René Berto

ist Künstlermanager, und begleitete damals Alf Poier zu einem sechsten und Conchita Wurst zu einem ersten Platz.

1. Erfolgreich zu sein heißt, anders zu sein, als die anderen. Der Act polarisiert und hat eine Geschichte zu erzählen.

2. Die Sieger des ESC sind charismatische Menschen, die im jeweiligen Jahr ihres Sieges zumeist die einprägsamsten Titel gesungen haben. Sie waren jedenfalls zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort und an dem Abend hat alles zusammengepasst. Gesang, Energie, Geschichte, Outfit, Material, Ausstrahlung. Wie bei einem Olympiasieg.

Eberhard Forcher

Foto: ORF

ist Musiker und Radiomoderator und der Eurovision-Song-Scout des ORF. Er sucht die Beiträge mit Panels aus.

1. Er sollte ein Alleinstellungsmerkmal vorweisen, Emotion transportieren und die Menschen berühren können. Blöderweise ist das alles noch immer keine Garantie für einen Platz an der Sonne.

2. Alle Siegerinnen und Sieger haben etwas miteinander gemeinsam: Sie haben einen dreiminütigen Magie-Moment erschaffen.

Manuela Tiefnig

ist Seitenblicke-Redakteurin und engagiert sich im österreichischen Song Contest-Fanclub OGAE Austria.

1. Damit ein Song in Erinnerung bleibt, sollte die Performance in irgendeiner Form das gewisse Extra haben. Außergewöhnlich gute Stimme, spezieller Song, opulentes Staging, individueller Auftritt – es gibt einige Möglichkeiten, um den Zusehern und der Jury in Erinnerung zu bleiben. Sie zu berühren, sie zu unterhalten – und das am besten in drei Minuten, denn mehr Zeit bleibt nicht.

2. Das Gewinnerlied muss den Zeitgeist und damit den Nerv der (meisten) Zuseher in diesem Jahr, in dieser Phase, zu diesem speziellen Zeitpunkt treffen. Waren es 2006 die grimmigen Verkleidungskünstler von Lordi mit ihrer rockigen Nummer, durfte 2014 etwa unsere bärtige Dragqueen Conchita mit ihrer Hymne für Toleranz die Trophäe in die Höhe stemmen. Heuer sagt mir mein Gefühl, dass die Leute nach über einem Jahr Pandemie etwas Beschwingtes, Heiteres und Unterhaltsames sehen und hören wollen – deshalb tippe ich auf Powerfrau Destiny aus Malta, Italiens Rocker Måneskin oder Islands Spaßbomben Daði og Gagnamagnið. Beim ESC ist eben nix jemals wirklich fix – und das macht ihn eben so wunderbar.

Irving Benoît Wolther

war der erste Wissenschaftler, der über die größte Musikshow der Welt forschte und hat seitdem mehrere Bücher geschrieben und informiert fortlaufend auf seinem YouTube Channel.

1. Ich glaube, ein ESC-Beitrag, der einem nicht mehr aus dem Kopf geht, muss Projektionsfläche für Empfindungen bieten. Das können romantische Gefühle sein, aber auch Wehmut, Fröhlichkeit oder Protest. Da unterscheidet sich der ESC nicht von den Wirkungsmechanismen anderer Musik.

2. Was die Sieger eint, ist ihre Fähigkeit, Menschen zu begeistern. Der Funke kann durch Gestik und Mimik überspringen, durch den Gesang oder eine spektakuläre Performance, in der die echte Künstlerpersönlichkeit zum Vorschein kommt.

Getty Kaspers

gewann den Eurovision Song Contest 1975 für die Niederlande mit dem Song "Ding-A-Dong" und der Gruppe Teach-In, die beim Finale 2021 eine Reunion feiern wird.

Die gebürtige Steirerin beantwortet beide Fragen mit einem Satz:

Ein Song muß ins Herz gehen und überraschen und ja, die Augen wollen auch was.

Christian Ude

verfolgt den Eurovision Song Contest seit Jahren für die Kleine Zeitung, war schon Jurysprecher in Vorentscheidungen und ist Fan.

1. Er muss eine Eigenständigkeit ausstrahlen, auch wenn er bekannte Elemente beinhalten mag, und muss von Künstlern mit Persönlichkeit, Bühnenpräsenz und Charisma dargeboten werden, die ihren Beitrag glaubhaft verkörpern und nicht wie einen falschen Mantel umgehängt haben.

2. Eben die vorhin angesprochene Authentizität. Diese Beiträge haben Ohr, Herz und Bauch erreicht – und manchmal auch den liebevollen "Schmunzelmuskel". Und sie waren im für sie richtigen Jahrgang dabei.

Alkis Vlassakakis

Foto: Gregor Hofbauer

ist Co-Host des Eurovision Podcast "Merci, Chérie" aus Wien

1. Er muss für etwas stehen und darf auch polarisieren. Auch wenn der Song dann nicht weiter kommt, denkt man oft gern an solche Songs zurück. Midtempo und durchschnittliche Gefälligkeit in der Inszenierung garantieren, dass er vergessen wird.

2. Nein, tatsächlich eint sie nichts. Ich halte nichts von der Theorie, dass nur ambitionierte und ehrgeizige Künstlerinnen und Acts gewinnen. Manchmal sind es nur Zufälle, die Songs auf das Siegerpodest gehoben haben, denn nicht immer liegen die Wertungen zwischen dem ersten und zweiten Platz so weit auseinander, wie 2014 bei Conchita oder 2017 bei Salvador Sobral.

Jürgen Pettinger

Foto: Manfred Weiss

ist Zeit im Bild-Moderator und als Song Contest-Aficionado auch oft vor Ort für den ORF im Einsatz.

1. Um beim ESC herauszustechen, muss das Gesamtpaket stimmen. Ein einzigartiger Song, eine aussergewöhnliche Performance und on top eine berührende Message. – Und natürlich: Glitzer!

2. Das schöne beim ESC ist für mich die Vielfalt. Was alle Siegesacts eint ist vielleicht, dass sie anders sind und deshalb herausstechen.

Martin Schmidtner

schreibt seit vielen Jahren vom ESC für die Berliner Morgenpost.

1. Der Song braucht etwas, das ihn von allen anderen unterscheidet, einen magischen Moment. Die Formel dazu wird jedes Jahr verzweifelt gesucht – ähnlich wie im Mittelalter das Opus Magnum der Alchimisten. Doch ebenso wie diese kein Gold herstellen konnten, hat beim ESC noch niemand die Formel aufstellen können. Der magische Moment kann entweder ein Alleinstellungsmerkmal in der Inszenierung sein, wie Rybaks Geige oder Måns‘ Strichmännchen. Abbas Kostüme 1974 gehören sicher in diese Kategorie. Es kann aber auch eine Alleinstellung in der Stimmung des Songs sein, also eine extrem einfache Ballade in einem Jahrgang voller überinszenierter Europop-Titel. Oder eine perfekte Dance-Nummer in einem vorwiegend von Balladen geprägten Jahrgang. Eine besondere Art des Singens wie bei Salvador Sobral oder aber auch bei Lena mit ihrem Akzent können diese Magie herbeiführen – kurzum, etwas, das das Publikum so noch nicht gehört hat oder das den Song von allen anderen eines Jahrgangs unterscheidet.

2. Sie hatten alle das gewisse Etwas. Es hilft kein großer Name und keine große Karriere. Es muss nicht mal besonders perfekt vorgetragen sein. Es muss aber etwas sein, was den Künstler oder die Künstlerin an einem ESC-Finalabend sich von allen anderen abheben lässt. Das Alleinstellungsmerkmal wie oben beschrieben bzw. eine Magie des Augenblicks.

Katinka Pointenerova

Foto: Amelie Chapalain

ist innerhalb der österreichischen Song Contest-Fangemeinde eine legendäre Moderatorin und Karaoke-Künstlerin.

1. Im Optimalfall ist ein Gewinnerlied nicht nur der kleinste gemeinsame Nenner aus verschiedenen Geschmäckern, Urteilen und Entscheidungen, denn dann bleibt er nicht in Erinnerung, sondern ist 0815-Gedudel. Im besten Fall berührt der Song das Herz: das Herz das tanzen will, das sehnsüchtige Herz, das Herz das Trash liebt, das melancholische Herz, und das ist ganz individuell.

2. Ich glaube das Vereinende ist, dass der Song zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige gemacht hat, um in Erinnerung zu bleiben und Menschen dafür bewegt hat, darin Siegerpotenzial zu sehen und dafür Punkte zu geben.

Markus Tritremmel

leitet den österreichischen Song Contest-Fanclub OGAE Austria.

1. Stimme, Persönlichkeit, Authentizität und ein perfektes Staging gepaart mit dem aktuellen Zeitgeist – und eventuell sollte man doch nicht mit der Startnummer 1 ins Rennen gehen. Aber selbst dann ist es möglich, im Gedächtnis zu bleiben.

2. Ein Siegertitel muss die Herzen berühren. Klingt kitschig, ist aber so und war schon immer so! Je mehr die emotionale Ebene beschritten wird, umso höher die Siegeschancen. Und das scheint einer Bond-Hymne genauso gut zu gelingen, wie einer Hardrocknummer aus Finnland.

Marvin Dietmann

Foto: Willinger

ist Artistic Director und inszeniert nicht nur seit Jahren die österreichischen Beiträge, sondern ist auch international begehrt. Dieses Jahr ist er gleich für sieben Acts verantwortlich.

Für mich sind beide Fragen eins. Du brauchst einen guten Song, einen guten Künstler und eine geile Performance, weil es sich bei TV ja um ein audio-visuelles Medium handelt. Und wenn du dabei emotionalisierst, dann bleibst du in Erinnerung, egal ob Hardrock, Dance oder Balladen, egal ob mit oder ohne Choreografie. Wenn du das schaffst, bist du weit oben.