Rosmarie Waldrop wurde 1935, wie ihre Protagonistin Lucy, in Kitzingen am Main geboren.

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Als Rosmarie Waldrops Pippins Tochters Taschentuch 1986 erschien, berichtet der US-amerikanische Lyriker Ben Lerner in seinem Nachwort, waren die Reaktionen wenig begeistert: "nicht gerade ermutigend", habe Waldrop geschrieben, "kein richtiger Roman, der ‚Roman einer Lyrikerin‘". Das ist Pippins Tochters Taschentuch – bei Suhrkamp nun in der wunderbar leichtfüßigen Übersetzung von Ann Cotten neu aufgelegt –, und zwar im allerbesten Sinne. Es ist ein anspruchsvoller Roman, gleichwohl ein unglaublich lohnender.

Pippins Tochters Taschentuch erzählt die Geschichte einer Familie und vom Krieg, dem Zweiten Weltkrieg. Die Pianistin Lucy Seifert versucht im Briefwechsel mit ihrer Schwester Andrea, die Geschichte der Eltern auf- und eine Schuld zu verarbeiten, die letztlich zu einer kollektiven wurde.

Die Ehe von Frederika und Josef Seifert wird schon nach zwei Monaten gebrochen. Von Frederika, die mit Josefs Kriegskamerad Franz schläft. Franz ist Jude, was, es sind die 1920er-Jahre, noch nicht von existenzieller Bedeutung ist. Wer der Vater von Frederikas Zwillingen ist, von Andrea und Doria (nach dem Schiff benannt), bleibt genauso unklar wie die Frage, wer Franz in den 1930ern, als die Frage nach seiner Herkunft existenziell wurde, auf Alimente verklagte.

Autobiografische Bezüge

Was hat Josef dazu gebracht, sich den Nationalsozialisten anzuschließen? Und wieso scheinen die Töchter zwanghaft alte Muster zu wiederholen? Auch Lucy betrügt ihren Mann. Andrea ging ins Kloster, nur um danach noch promisker zu leben. Selbst Doria, die stille fünffache Mutter, betrügt ihren Mann.

Der autobiografische Bezug ist offensichtlich: Waldrop wurde 1935, wie – wenn auch erst 1936 – Lucy, in Kitzingen am Main geboren, jener fränkischen Kleinstadt, deren Geschichte der Legende nach an der Stelle beginnt, an der ein Schleier der Schwester von Pippin III. zu Boden segelte.

Waldrop studierte Literatur- und Musikwissenschaften, sie spielt, genau wie Lucy, Klavier und emigrierte in den 1950er-Jahren mit ihrem Ehemann Keith in die USA, wo sie in Providence lebt – wie auch Lucy. Gemeinsam mit Keith gründete Waldrop den Lyrikverlag Burning Deck Press, wer "in den USA in irgendeiner Weise mit experimenteller Poetik beschäftigt ist", so schreibt Ann Cotten in ihrer Nachbemerkung, "kommt an Rosmarie Waldrops Werk nicht vorbei".

Erinnerung und Narration

Wie sehr aber diese Lucy nun Waldrop entspricht oder nicht, ist im Grunde genauso wenig von Belang, wie ob es nun eine Antwort auf die vielen offenen Fragen gibt (gibt es nicht) – was den Roman groß macht, sind zuvorderst zwei Dinge: Waldrops Umgang mit dem Problem von Erinnerung und Narration und ihre Sprache.

Die Notwendigkeit, zum Zwecke einer konsistenten, sinnvollen Erzählung zu vereinfachen, wird bereits im Titel problematisiert. Die Legende nicht ganz korrekt wiedergebend, beklagt Lucy wiederholt, dass die vermeintliche Tochter Pippins lediglich durch einen winzigen Moment in ihrem Leben im Gedächtnis blieb.

Um diese letztlich würdelose Verzwergung von Menschenleben zu Erzählmaterial zumindest zu hintertreiben, greift Waldrop zu einer Technik, die Ben Lerner als "destabilisierende Abschnittstitel" bezeichnet – das Buch besteht aus über 100 Abschnitten, deren in Versalien gesetzte Titel mal der Beginn des folgenden Abschnitts, mal das Ende des vorherigen sind.

Rhythmus und Atmosphäre

Das stört den Lesefluss, vor allem aber gibt es dem Text Rhythmus, es lässt die Bedeutungen changieren und macht immer wieder deutlich, dass es Gewissheiten, logische Abfolgen von Ursache und Wirkung in dieser Geschichte nicht geben kann. Eher schon Atmosphären, Gefühle, meteorologische, musikalische und esoterische (Astralleiber!) Begriffe und Strukturen, die das motivische Gerüst des Romans bilden.

Letztlich bleibt Lucy nur, Mutmaßungen und Ratespiele mit Andrea anzustellen (deren Briefe lediglich in Lucys Antworten widerhallen): Wie lassen sich die wenigen belastbaren Zeugnisse der Vergangenheit, die eigenen verwaschenen Erinnerungen mit Sinn oder gar Wahrheit füllen?

Wie Waldrop dieses vergebliche Tasten erzählt, ist letztlich weit mehr wert: Man sieht durch ihre Sprache das Leben plötzlich wie neu. Radfahren, das ist: "Nur die Beine machen kreisende Bewegungen, womit die Entfernung die Straße entlangrollt." Und der Nebel eines neuen Tages wird "in Streifen geschnitten vom Lärm der Elstern". (Andrea Heinz, 23.5.2021)