Nur der Himmel ist das Limit: Die Zahl der aktiven 100-Jährigen steigt stetig an – auch wenn nicht jede Hochbetagte einen Fallschirmsprung wagt.
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Zum 100. Geburtstag machte sich die Australierin Irene O’Shea ein erhebendes Geschenk: Sie absolvierte ihren ersten Fallschirmsprung. Ihr dritter Geburtstagssprung im Jahr 2018 aus 4300 Meter Höhe brachte der damals 102-Jährigen den Rekordtitel der ältesten Fallschirmspringerin der Welt ein – den sie bis heute hält.

Im Vergleich zu Jeanne Calment ist O’Shea jedoch regelrecht ein Jungspund. Die Französin Calment starb 1997 im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen und gilt als Mensch mit dem höchsten Lebensalter, das jemals dokumentiert wurde. Die Liste der ältesten lebenden Menschen wird derzeit von der Japanerin Kane Tanaka angeführt, sie ist 118 Jahre alt – und nach wie vor recht fit.

Die Damen sind allesamt in einem Klub, der nicht mehr ganz so exklusiv ist, wie er einmal war. Die Zahl der Menschen, die 100 Jahre und älter werden, steigt stetig an. Gab es in den 1960er-Jahren weltweit rund 20.000 über 100-Jährige, waren es im Jahr 2020 bereits mehr als 570.000, 80 Prozent davon sind Frauen. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen werden im Jahr 2100 25 Millionen Menschen ihren 100. Geburtstag hinter sich haben.

Weitaus dünner wird die Luft allerdings in der Sphäre der "Supercentenarians", also jener Menschen, die mindestens 110 Jahre alt sind. Wie viele es gibt, kann nur geschätzt werden: Angeblich leben derzeit 300 bis 450 Personen mit diesem hohen Alter auf der Welt.

Biologische Grenze?

Doch wie weit lässt sich die menschliche Lebensspanne noch ausdehnen? Wo liegen die Grenzen? Werden Menschen irgendwann ein Alter von 150 oder 200 Jahren erreichen können? Fragen wie diese faszinieren die Wissenschaft seit jeher – und entzweien sie, salopp gesagt, in Optimisten und Pessimisten.

Erstere gehen davon aus, dass sich die Grenzen des Lebensalters immer weiter verschieben lassen. Als Beleg dienen ihnen unter anderem Daten über die Sterbewahrscheinlichkeiten von etwa 4000 Italienerinnen und Italienern im Alter von 105 plus, die Forscher 2018 in Fachblatt "Science" veröffentlichten. Demnach steigt das Sterberisiko bis zum Alter von 80 Jahren an, verlangsamt sich dann, um schließlich im Alter von 105 Jahren bei etwa 50 Prozent zu stagnieren. Bis etwa 110 Jahre bleibt es dann bei einer 50:50-Chance, das folgende Jahr zu erleben. Die Limits des Lebensalters seien also alles andere als erreicht.

Pessimisten hingegen sind überzeugt, dass sich die maximalen Lebensjahre nicht unbegrenzt verlängern lassen. "So wie ich und viele andere Wissenschafter das sehen, ist bei etwa 115 Jahren die biologische Grenze erreicht", formuliert es der Demograf Marc Luy, der seit vielen Jahren an der Akademie der Wissenschaften zu Langlebigkeit und gesundem Altern forscht. "Bis vor rund 20 Jahren hat die Lebenserwartung pro Jahrzehnt um etwa 2,5 Jahre zugenommen. Seither gibt es aber Anzeichen, dass die Kurve abflacht."

Auch dass nun schon fast 25 Jahre niemand an den Rekord von Jeanne Calment herangekommen sei, lege nahe, dass es sich bei derartig Hochbetagten um glückliche Zufälle handle, sagt Luy. Es sei bisher nur eine Handvoll von über 115-Jährigen weltweit bekannt.

Frauen leben länger

Für Marc Luy ist die wesentliche Frage nicht, wie lange wir leben können, sondern vielmehr: Wie schaffen es manche, länger zu leben als andere? Eine Frage, die sich insbesondere in Bezug auf den Unterschied in der Lebenserwartung von Männern und Frauen stellt. 2020 betrug die Differenz in Österreich laut Schätzungen der Statistik Austria 4,8 Jahre. Frauen haben demnach derzeit eine Lebenserwartung von 83,7 Jahren, die Männer stehen bei 78,9 Jahren.

Für die Lücke zwischen den Geschlechtern werden einerseits biologische Unterschiede, etwa im Immunsystem, bei den Hormonen und den Chromosomen angeführt, andererseits verschiedene Lebensstile, also was etwa die Ernährung und schädliches Verhalten wie Zigaretten- und Alkoholkonsum angeht.

Um mehr darüber herauszufinden, hat Luy in einer Langzeitstudie in deutschen und österreichischen Klöstern die Daten von rund 16.600 Mönchen und Nonnen analysiert. Eine einzigartige Gruppe, da sich sämtliche Mitglieder nicht in Bezug auf Einkommen, Familienstand, Tagesablauf, Ernährung, Wohnsituation, Religionszugehörigkeit und anderen Aspekten unterscheiden, die Gesundheit und Langlebigkeit beeinflussen.

"Während Frauen in der Gesamtbevölkerung eine um etwa sechs Jahre längere Lebenserwartung hatten als Männer, war es in den Klöstern gerade ein Jahr Unterschied", sagt Luy über die Ergebnisse. "Es war klar: Die Biologie macht nicht so viel aus." Frauen im Kloster lebten in etwa gleich lang wie Frauen außerhalb, Männer lebten jedoch im Kloster im Schnitt um fünf Jahre länger als weltliche Männer. "Besonders Männer mit geringer Bildung profitierten vom Klosterleben", fügt Luy hinzu.

Komplexes Puzzle

Bildung ist vielen Demografen zufolge ein wesentlicher Schlüssel für ein langes Leben. Damit eng verwoben sind andere sozioökonomische Faktoren wie Einkommen, Jobs mit weniger Gesundheitsrisiken, Zugang zu medizinischer Versorgung und höhere Lebensqualität.

Viele Ursachen für eine kürzere Lebenserwartung, besonders unter Männern, seien auf persönliche Entscheidungen und risikoreiches Verhalten zurückzuführen, betont Luy. Dabei sei es sehr schwer, einzelne Faktoren zu quantifizieren – mit einer Ausnahme: So ist Rauchen für mehr als die Hälfte der Geschlechterdifferenz bei der Lebenserwartung verantwortlich. Am geringsten ist der Unterschied übrigens in Ländern, wo Gleichberechtigung einen größeren Stellenwert hat, also etwa in Schweden – was darauf hinweist, dass traditionelle männliche Rollenbilder einem langen Leben abträglich sind.

Seit einiger Zeit hat die Kennzahl der zu erwartenden gesunden Lebensjahre immer mehr an Bedeutung gewonnen – eine Kategorie, die jedoch noch sehr unscharf definiert ist, wie Marc Luy betont. So können schwere Erkrankungen zwar immer weiter hinausgezögert werden, dafür häufen sich aber chronische Krankheiten, je älter man wird.

"Es ist ein komplexes Puzzle, das zu einem langen, gesunden Leben führt", fasst Luy zusammen. Ein entscheidender Teil ist für den Forscher Stress. Befragungen der Ordensleute haben ergeben, dass ein geregelter Tagesablauf und der fehlende Bruch durch eine Pensionierung innerhalb der Klostermauern für ein stressfreieres Leben und das Gefühl, auch im Alter eine positive Funktion zu erfüllen, sorgen. Was möglicherweise bewirkt, auch im hohen Alter gesund zu bleiben.

Knick durch Corona

Fest steht, dass für heute geborene Babys die Chance sehr hoch ist, 100 Jahre und älter zu werden. Seit dem Ende der Spanischen Grippe-Pandemie um 1920 hat sich die Lebenserwartung verdoppelt. Die Eindämmung der Kindersterblichkeit, die Erfindung von Impfungen, Penicillin, Pasteurisierung und Trinkwasserdesinfektion haben dazu geführt, dass sich auch die Lücke zwischen armen und reichen Ländern langsam schließt. Wenn auch heute noch große Unterschiede bestehen: Japan ist heute das Land mit der höchsten Lebenserwartung von 84,5 Jahren, auf dem letzten Platz der UN-Liste steht die Zentralafrikanischen Republik mit 52,5, Jahren. Österreich liegt auf dem 25. Rang weltweit.

Derzeit verursacht die Corona-Pandemie einen Knick in der kontinuierlich ansteigenden Lebenserwartung: In manchen Ländern ist sie 2020 um bis zu drei Jahre gesunken, in Österreich sank sie laut Eurostat um 0,7 Jahre. Der Rückgang werde aber aufgeholt, sobald die Pandemie überwunden sei, erklärt Luy, da die Lebenserwartung allein die Sterblichkeit im jeweiligen Jahr abbilde.

Noch geht der Trend für ein immer längeres Leben weiter. Ob das menschliche Lebensalter eine Obergrenze erreicht oder in der Zukunft die Heilung von Krankheiten wie Krebs und Alzheimer oder gar biotechnische Eingriffe deutliche Lebensverlängerungen möglich machen, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Länger Zeit, darüber nachzudenken, werden jedenfalls viele von uns haben. (Karin Krichmayr, 21.5.2021)