Der Eurovision Song Contest (ESC) hat etliche Fangemeinden: Für viele Familien aus ganz Europa ist er ein freudiges TV-Event, im Publikum begeistern sich für gewöhnlich viele junge Menschen für die Performances. Der gebürtige Niederländer Marco Schreuder bloggt für den STANDARD seit Jahren über den ESC und auch heuer – trotz Pandemie – wieder aus Rotterdam. Im Interview erklärt der Grünen-Politiker, der seit 2005 mit seinem Partner verheiratet ist, warum die Veranstaltung auch für queere Personen, vor allem schwule Männer, einen großen Reiz hat.

ESC-Fan Marco Schreuder bloggt aus Rotterdam.
Foto: privat

STANDARD: Ist das ein Vorurteil oder ein Klischee, dass der ESC ein Magnet für schwule Männer ist?

Schreuder: Es stimmt, in der Fangemeinde, die von Jahr zu Jahr zum ESC anreist, ist die queere Community enorm präsent. Und ja, der Anteil schwuler Männer ist sehr hoch, aber nicht alles entscheidend. Ich kenne auch viele lesbische Frauen und Transgender-Personen, die auf den ESC stehen. Und was die Auftritte betrifft: Natürlich freut sich die LGBTQIA*-Community (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexual and Asexual, Anm.) darüber, dass es bei den Künstlern eine Repräsentanz von Queerness gibt, aber am Ende stimmen alle für den Song ab, der am meisten berührt oder Spaß gemacht hat. Im Vordergrund steht nicht die sexuelle Orientierung eines Künstlers.

Was der ESC grundsätzlich Jahr für Jahr in diesen zwei Wochen für queere Personen bietet, ist eine gewisse Unbeschwertheit und eine ausgelassene Freude an der Musik. Klar, es gibt hier auch viel Trash-Musik, deshalb wird der Bewerb ja vom Mainstream belächelt. Und natürlich gibt es auch viele künstlerisch sehr wertvolle Beiträge. All das mal zu feiern und stundenlang über die Aufritte und Kostüme zu diskutieren gibt eine gewisse Unbeschwertheit, die die eigenen Sorgen für eine gewisse Zeit vergessen lässt.

STANDARD: Warum ist der ESC gerade bei schwulen Männern so beliebt?

Schreuder: Es gab immer schon einen Hang schwuler Männer zur großen Geste und zur großen Stimme. Ich denke da an Judy Garland, deren Tod indirekt der queeren Emanzipationsbewegung einen wichtigen Auftrieb gab. Die Beliebtheit des ESC rührt aber auch sicher daher, dass schwule Männer in der Theater- und TV-Branche recht früh schon relativ offen leben konnten beziehungsweise viel offener als in anderen Branchen wie etwa am Bau oder in der Kfz-Werkstätte. Heute kann man auch dort viel eher zu sich stehen, aber jahrzehntelang ging das nicht.

Beim ESC kommt noch dazu, dass er sehr integrativ ist. Das soll heißen, egal wer man ist, wie man aussiehst, welche Sprache man spricht, wen man liebt oder ob man durch eine Behinderung eingeschränkt ist – beim ESC ist man willkommen. Schwarze Künstler konnten dank des Bewerbs in den 1960er-Jahren im TV-Hauptabendprogramm auftreten, und Menschen mit Migrationshintergrund konnten in einer Zeit ohne Internet Performances in ihrer Muttersprache abfeiern. Der ESC zieht all jene Menschen an, die sich willkommen fühlen wollen. Bereits im Jahr nach der ersten Gay-Pride-Parade 1996 in Wien gab es beim ESC einen offen queeren Akt, davor gab es natürlich auch schon Auftritte von queeren Künstlern, aber noch etwas verdeckter.

STANDARD: Seit wann bist du ESC-Fan?

Schreuder: Seit ich sieben Jahre alt bin. Meine Eltern sind aus den Niederlanden nach Bad Ischl ausgewandert. Es war für mich faszinierend, dass meine Großeltern in Den Haag und ich in Österreich die gleiche Show anschauen konnten. Damals hielt ich übrigens zu Österreich, ich bin ein großer Fan von Waterloo & Robinson. Seither habe ich keinen einzigen ESC verpasst.

STANDARD: Manchmal findest der ESC in Ländern statt, in denen Homophobie noch salonfähig ist und die politischen Bedingungen für queere Personen sehr schwierig sind. Ist der ESC eine Chance, diese Umstände zu verbessern?

Schreuder: Der ESC selbst kann die Politik nicht verändern, sondern nur Diskursakzente setzen. Das beste Beispiel dafür ist Dana International, eine transsexuelle Teilnehmerin, die 1998 den ESC für Israel gewann. Sie war ein wichtiger Motor für Veränderung in Israel. Auch Conchita Wurst in Österreich ist ein gutes Beispiel dafür, dass der ESC den Diskus beeinflussen kann. Auch bei der heurigen Ausgabe gibt es so einen Diskursmoment: Jeangu Macrooy, der aus der Ex-Kolonie Surinam in die Niederlande emigrierte, um als freier, schwuler Mann zu leben, singt über die Sklaverei-Vergangenheit in seiner Heimat.

Dass Belarus heuer wegen eines viel zu regimetreuen Songs disqualifiziert wurde, finde ich schade. Ich gehöre nicht zu jenen, die sagen, Autokratien und Diktaturen gehören vom ESC ausgeschlossen, denn Popkonzerte haben die Möglichkeit, zu zeigen, dass Freiheit, Offenheit und Vielfalt schön sind. Und deswegen würde ich mir auch wünschen, dass die Türkei und Ungarn, die 2013 und 2019 aus dem ESC ausgetreten sind, wieder daran teilnehmen. Ich hoffe auch, dass Russland mal wieder den ESC gewinnt, dann kreuzen wir in Sotschi mit unseren Regenbogenflaggen auf. Mal schauen, was dann passiert. 2009 wurde in Moskau während der Austragung des ESC eine Gay-Pride-Veranstaltung gewaltsam von den Sicherheitskräften aufgelöst.

STANDARD: Seit Donnerstag ist es fix, Österreich wird mit Vincent Bueno am Samstag nicht im Finale vertreten sein. Warum hat er es nicht geschafft?

Schreuder: Ganz unerwartet ist es nicht, dass Österreich nicht im Finale gelandet ist. Bei den Wettquoten sah es bis zuletzt so aus, als könnte es Vincent Bueno nur knapp in die Endrunde schaffen, aber es hat dann doch nicht gereicht. Ich glaube, dass die Menschen wegen der Pandemie ein Lied mit mehr Energie, Freude und Hoffnung haben wollten. Der Song war nun doch eher etwas tragisch, wenn auch schön und stimmsicher vorgetragen. Mir hat seine Performance jedenfalls gut gefallen, er hat außerdem eine sonst unsichtbare philippinische Community sichtbar gemacht, und dafür gebührt ihm Dank. Meine Favoriten fürs Finale sind Italien und die Niederlande. (Flora Mory, 21.5.2021)