Erich Neuwirth, Statistik-Professor im Ruhestand, erreichte mit seinen Analysen der Corona-Fallzahlen auf Twitter 30.000 Follower.

Foto: Regine Hendrich

Als Martin Polak im Februar 2020 von einem Urlaub in der Region Veneto nach Wien zurückgekehrt war, fand er eine überraschende Nachricht in seinem E-Mail-Posteingang. Polak, der im Verkauf eines Software-Konzerns arbeitet, hatte ab sofort Hausverbot.

Bei einem seiner Kunden war der Zutritt für Leute, die kürzlich noch in Italien waren, von nun an verboten. "Da hab’ ich mir gedacht: Da ist wohl mehr dahinter als ein Schnupfen in China", sagt Polak heute. Ab diesem Zeitpunkt ist er immer weiter in das Thema "reingerutscht" – und bis heute nicht mehr rausgekommen.

Martin Polak ist Teil einer stetig wachsenden Community aus Personen, die sich in ihrer Freizeit mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in Österreich beschäftigen. Informatiker, Meteorologen, aber auch Musiker oder Lehrer begannen letztes Jahr, sich auf Twitter auszutauschen, analysierten Daten von Ages und Gesundheitsministerium und verglichen Studienergebnisse zu Impfstoffen.

Sie alle treibt neben persönlichem Interesse das Bedürfnis, die Öffentlichkeit zu informieren, auch weil offizielle Stellen und manche Medien – so die oft geäußerte Kritik – dem nicht ausreichend nachkommen.

Affinität für Zahlen

Nach einem Studium der mathematischen Physik hat es Martin Polak in den Verkauf verschlagen. Die Affinität für Zahlen und Daten ist dem 43-Jährigen geblieben. Schon in der Vergangenheit hat er in "privaten Datenprojektchen" Daten zu Busverspätungen oder Gesetzesnovellen in Tabellen gefüllt. Seit Februar 2020 gilt sein statistischer Ehrgeiz einzig und allein Covid-19.

Er begann, die Zahlen der täglichen Neuinfektionen zu analysieren und seine Einschätzungen auf Twitter zu teilen. Und er erstellte als Erster in Österreich sogenannte Heatmaps, um Datenmengen, für die herkömmliche Kurven nicht mehr ausreichen, leichter verständlich darstellen zu können.

Eine Farbskala von dunklem Grün zu leuchtendem Rot zeigt etwa die Entwicklung der Infektionszahlen in den Bundesländern und Altersgruppen. Mittlerweile verwendet sogar die Ampelkommission für ihre wöchentlichen Empfehlungen eine ähnliche Visualisierung.

Der Daten-Junkie

Auch die Impfzahlen verfolgt Polak genau und stellt sie in einer Alterspyramide dar. Wie die Heatmaps machen auch diese Darstellungen die Daten greifbarer, indem neue Entwicklungen schnell ins Auge stechen, während öffentliche Stellen weiterhin großteils auf Balkendiagramme und Kurven setzen.

Unter seinen 1200 Twitter-Followern sind Journalisten, Wissenschafter wie der Mikrobiologe Michael Wagner, aber auch andere Blogger, die sich auf seine Arbeit beziehen. Polak will einordnen können, was er liest, und sich selbst ein Bild machen, dafür klemmt er sich abends noch vor den Computer. "Ein anderer braucht eine Zigarette, ich brauche das", sagt er. Bis zu zehn Stunden pro Woche verbringt er mit Datenanalyse und Entwicklung neuer Darstellungen.

Dabei ist oft das Problem nicht, dass Infos nicht vorhanden sind, sondern dass niemand etwas damit macht, sagt er: "Viele davon, zum Beispiel die Altersdaten, liegen nur tagesaktuell vor. Ich kann sehen, wie viele Infizierte es heute in einer Altersgruppe in Niederösterreich gibt, aber wenn ich wissen will, was vorgestern war, gibt es diese Daten nicht mehr – die sind weg." Doch es gibt Privatpersonen, die diese Zahlen täglich auf Servern speichern – und den Pandemieverlauf damit nachverfolgbarer machen.

Der Statistik-Professor

Etwa Erich Neuwirth, Statistik-Professor im Ruhestand und kein ganz Unbekannter: Er hat die ersten Wahlhochrechnungen im ORF begleitet, Mängel in der Pisa-Studie öffentlich gemacht und Analysen für den Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus erstellt. Seit einem Jahr widmet er sich Corona.

"Ich habe mich immer wieder öffentlich eingemischt, wenn ich der Meinung war: Da kann Statistik etwas beitragen", sagt Neuwirth. Er sei ein politischer Mensch –und Politik bedeute, möglichst gut informiert Entscheidungen zu treffen.

Als Beamter arbeite er außerdem im öffentlichen Interesse. Das nimmt Neuwirth ernst. "Ich beklage sehr, dass die öffentlichen Stellen zu wenig tun, um die richtigen Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Weil mich das ärgert, investiere ich selbst Zeit." Und so veröffentlicht Neuwirth online dreimal am Tag Kurvengrafiken über die Entwicklung der Fallzahlen.

Das hat ihm rund 30.000 Follower auf Twitter gebracht und ihn zum medial vielzitierten Statistikexperten mit Gastauftritten in der ZiB 2 gemacht. Auch weil er als einer der Ersten analysierte, dass das exponentielle Wachstum der Fallzahlen, das zur heiklen Situation im Herbst und Winter führen sollte, schon im Frühsommer 2020 begonnen hatte.

Das Long-Covid-Projekt

Auch Martin Polak erkannte bei seinen Privatanalysen frühzeitig Trends, die zunächst wenig Beachtung fanden. Im März 2021 etwa zeigten seine Heatmaps für Wien besorgniserregende Inzidenzen bei Kindern im Alter von fünf bis 14 Jahren an. Ein Sprecher des Wiener Gesundheitsstadtrates Peter Hacker warf Polak darauf vor, die Zahlen seien grob falsch. "Ich habe es überprüft und gesehen: Meine Analyse stimmt. Zumal ich ja nur die offiziellen Daten aufbereite", sagt Polak.

Vermutlich habe man damals noch nicht wahrhaben wollen, dass Kinder betroffen seien. "In den Heatmaps sah man aber, dass sich Inzidenzen zuerst in den Schüleraltersgruppen abzeichnen und sich dann erst in anderen Altersgruppen ausbreiten. Das ließ die Hypothese zu, dass das Virus oft von Kindern in die Haushalte gebracht wird und sich dort verteilt."

Yvonne Anreitter trägt auf Youtube und Twitter neue Erkenntnisse zu Long Covid zusammen.
Foto: Regine Hendrich

Vermutlich bei einem ihrer vier Söhne hat sich Yvonne Anreitter letzten November mit Corona infiziert. Ein halbes Jahr später leidet sie immer noch an Long Covid: Mit heftigen Kopf- und Bauchschmerzen, dazu Erschöpfungszustände. Schon das Lesen eines kurzen Zeitungsartikels schafft sie.

Auf Twitter und auf ihrem Youtube-Kanal, den sie mithilfe ihres Mannes gestaltet, informiert sie über die Herausforderungen ihres Alltags, aber auch über aktuelle Forschung und Phänomene wie das Mastzellenaktivierungssyndrom, kurz MCAS, das bei vielen Long-Covid-Patienten auftritt.

Aufgrund ihres Engagements wurde Anreitter bereits von einem Krankenhaus eingeladen, um dort von ihrer Krankheit und neuen Erkenntnissen zu erzählen, auch von Selbsthilfegruppen bekam sie schon mehrmals Anfragen, die sie aber aufgrund ihrer Belastbarkeitsgrenze häufig absagen musste.

Die Chance, gesund zu werden

Anreitter zieht Schlüsse aus ihren Recherchen und benennt Probleme klar. "Es wäre wichtig, dass Long-Covid-Patienten in Ruhe in Krankenstand gehen können", sagt sie. In Facebook-Selbsthilfegruppen erlebe sie, wie andere Betroffene trotz Erkrankung arbeiten gehen müssen und "kaputt werden". Man müsse Menschen aber die Chance geben, gesund zu werden. "Ich habe das Gefühl, diese Info ist noch nicht bei der ÖGK angekommen."

Mangelnde Information ist für alle drei eine Wurzel des Problems, das sie mit ihren Privatrecherchen bearbeiten wollen. Für Neuwirth ist es symptomatisch, dass es im Gesundheitsministerium keine wirkliche Statistikabteilung mit Profistatistikern gibt. Da stimmt auch Martin Polak ein: "Ich glaube, der Wert medizinischer Statistik ist in Österreich nicht sehr hoch – und das fällt uns jetzt auf den Kopf." Aber vielleicht, so Polak, könne das ja eine Lektion für die Zukunft sein. (Levin Wotke, 24.5.2021)