Wäre die Unschuldsvermutung der Maßstab für Politikerrücktritte, wäre Karl-Heinz Grasser noch immer Finanzminister, sagt der Politikwissenschafter Moritz Moser in seiner Replik auf Alfred Noll. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Staatsanwalt Gerhard Jarosch zum Umgang mit Auskunftspersonen in den Untersuchungsausschüssen.

Sebastian Kurz im Juni 2020 im Ibiza-Untersuchungsausschuss. Ein Jahr später schlägt dieser Auftritt weiter Wellen. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt gegen den Bundeskanzler.
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Dass sich die rechtliche und moralische Bewertung eines Sachverhaltes unterscheiden, weiß jeder Jurist, Alfred Noll weiß es daher besonders gut. Die Frage ist, ob man aus juristischen Erwägungen politische ableiten soll. Noll hat sich in seinem Gastkommentar (Causa Kurz: Anklage und Anstand) dagegen ausgesprochen, eine Anklage zum Anlass für Rücktrittsaufforderungen zu nehmen. Er schlägt sich darin auf die Seite der Unschuldsvermutung und stellt sich gegen vermeintlich selbstberufene Moralapostel. Noll warnt davor, aus Anklagen einen Rücktrittsautomatismus abzuleiten. Das würde tatsächlich zur Verwässerung der politischen Verantwortlichkeit führen. Diese stellt nicht auf rechtliche Beweisführung ab, kann sich rechtlicher Aspekte aber argumentativ bedienen. Noll operiert jedoch dagegen, indem er die Unschuldsvermutung in die Sphäre des Politischen ausdehnt: Wer nicht verurteilt ist, ist unschuldig. Wer unschuldig ist, hat keinen Grund zurückzutreten.

"Ein Beamter muss bei Anklage bestimmter Delikte suspendiert werden."

Für Noll ist die einzig legitime Folge einer Anklage der Prozess, alles Übrige sind Sicherungsmaßnahmen. Für manche gehen diese aber schon recht weit. Ein Beamter muss bei Anklage bestimmter Delikte suspendiert werden. Außerdem kann die Dienstbehörde auch bei anderen Anklagen Suspendierungen aussprechen, wenn etwa "das Ansehen des Amtes oder wesentliche Interessen des Dienstes gefährdet würden".

Ein Bundeskanzler kann nicht suspendiert werden, aber er kann an der Ausübung seines Amtes verhindert sein. Wann das der Fall ist, entscheidet er grundsätzlich selbst. Man könnte durchaus zu dem Schluss kommen, dass eine Anklage das Ansehen des Amtes so weit schädigt, dass man sich bis zur Klärung des Sachverhaltes vertreten lässt. So viel nur zum rechtlichen Aspekt. Diese Einsicht fordert freilich ein überösterreichisches Niveau an Selbstkritik.

Moralinduzierter Rücktrittsautomatismus

Die von ihm betriebene Trennung von Recht und Moral gelingt Noll indes selbst nur bedingt. Schon beinahe ironisch wirkt die Warnung vor einem "Moral-Tohuwabohu" gepaart mit seiner Forderung an Politiker: "Sie haben den Gesetzen zu folgen; und wenn sie nachgewiesenermaßen (!) dagegen verstoßen haben, dann sollten sie gehen." Gehen wir davon aus, dass Noll mit einem Gesetzesverstoß keine Buße wegen eines kaputten Fahrradlichts meint, sondern auf gerichtlich strafbare Handlungen repliziert: Nicht jede Verurteilung führt zum Amtsverlust. Das zu fordern ist nichts anderes als jener moralinduzierte Rücktrittsautomatismus, den der Autor anderen unterstellt und verbieten möchte. Er hebt nur die Rücktrittsschranke von der Anklage in Richtung Verurteilung.

Wann genau ein Rücktritt nach seinem Dafürhalten erfolgen soll, bleibt der frühere Abgeordnete der Liste Jetzt schuldig. Reicht ihm eine Verurteilung in erster Instanz? Die von Noll so hochgepriesene Unschuldsvermutung gilt bekanntlich bis zur Rechtskraft eines Urteils. Wäre das der Maßstab für Politikerrücktritte, wäre Karl-Heinz Grasser noch immer Finanzminister.

Ein Verdacht ist so gut wie der andere

Für Noll steht "der sich moralisch überlegen dünkende Rücktrittsbefehl" der Opposition im Gegensatz zur "Geltendmachung der politischen Verantwortlichkeit durch den Nationalrat". Tatsächlich liegt der einzige Unterschied in der Mehrheitsfähigkeit. Die moralische Sichtweise ist dem erfolgreichen Misstrauensantrag ebenso eigen wie dem erfolglosen.

Als Noll 2019 selbst einen Misstrauensantrag gegen Sebastian Kurz einbrachte, stellte er ihn in "den Verdacht, generell politisch geschäftsunfähig zu sein oder es im Bereich politischer Gewerbsmäßigkeit darauf abzusehen, seinen jeweiligen Partner durch seine Unterschrift täuschen beziehungsweise betrügen zu wollen". Dieser juristisch verbrämte politische Verdacht war damals ausreichend für Nolls Stimme gegen die Regierung. Anscheinend sieht jetzt alles ganz anders aus. (Moritz Moser, 23.5.2021)