Warum die Bewegung, die Donald Trump in den USA losgetreten hat, auch weiterhin eine Bedrohung für die Verfassungsdemokratie ist, beschreibt die Journalistin und Autorin Elizabeth Drew im Gastkommentar.

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Der chinesische Designer Hong Jinshi empfiehlt dem ehemaligen US-Präsidenten Meditation.
Foto: Reuters / Martin Pollard

Die Phase, in der sich die USA derzeit befinden, könnte als jene Zeit in die Geschichte des Landes eingehen, in der das demokratische System zur Wahl eines Präsidenten – die folgenreichste Pflicht der US-Bürgerinnen und US-Bürger – womöglich für immer zerstört wurde.

Freilich wurde das Versprechen und die zentrale Prämisse der US-Verfassung – nämlich dass der Präsident vom Volk zu wählen ist – nie vollständig erfüllt. Die aristokratischen Gründerväter trauten dem Pöbel (oder Sklaven oder Frauen) nicht zu, die Person zu wählen, die das mächtigste Amt der Nation bekleiden sollte. So kam es letztlich dazu, dass angeblich kluge Männer – das Wahlmännerkollegium – den Präsidenten wählen.

Unter Präsident Donald Trump ging es um das erlogene Problem, ob das Wahlergebnis des Wahlkollegiums tatsächlich der Stimmenauszählung in den Bundesstaaten entsprach. Bei diesem mittlerweile als "große Lüge" bekannten Vorwurf ging es nicht nur darum, dass man Trump die Wahl "gestohlen" habe, sondern auch um Versuche, verschiedene hinterlistige Mittel zur Umkehrung des wahren Ergebnisses zu legitimieren.

(K)ein Scherz

Im Vorfeld der Wahl 2020 scherzten Talkshow-Moderatoren, dass Trump sich im Falle einer Niederlage einfach weigern könnte, das Weiße Haus zu verlassen. Doch Trump verfolgte raffiniertere – und gefährlichere – Pläne: Sollte er verlieren, würde er erklären, dass die Stimmauszählung falsch sei; dass ihm die Wahl gestohlen worden sei.

Laut "Washington Post" war diese Strategie für gescheiterte Kandidaten in rechten Kreisen schon eine Weile kursiert, doch frühere Kandidaten für Ämter auf Bundesebene hatten dieser Idee eine Absage erteilt. Trump hat sich jedoch noch nie viele Gedanken über die Auswirkungen seiner Aktionen auf andere oder das Land gemacht. Es bestehen kaum Hinweise darauf, dass er die Verfassung begreift.

Die Richtigkeit des offiziellen Wahlergebnisses infrage zu stellen heißt jedoch, die Annahme der Integrität des Wahlsystems zu untergraben. Dennoch ist es einem blamierten, zurückgewiesenen, zweimal mit Amtsenthebung bedrohten Ex-Präsidenten gelungen, bis zu drei Viertel der Republikaner von seinen haltlosen Behauptungen zu überzeugen.

Wie konnte das geschehen?

Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie das geschehen konnte. Ein wichtiger Faktor besteht darin, dass sich nicht nur Trump allein dem Konzept von der Nutzung der großen Lüge verschrieb, sondern eine ganze Phalanx rechtsgerichteter Aktivisten und einige Nachrichtensender berichteten in Dauerschleife. Trump verfügt über die rhetorischen Fähigkeiten des begabten Demagogen; seine Tiraden sind mit Unterhaltung gespickt. Das Gefährliche übertüncht er mit Spaß. Außerdem ist ein großer Teil der Wählerschaft schlecht informiert. Den Unterricht in Staatsbürgerkunde gibt es im Wesentlichen nicht mehr. Und Trump hat das Misstrauen gegenüber den Medien befeuert. Er verwandelte die Wahrheit in einen Pingpongball.

Durch Verunglimpfung und Rücksichtslosigkeit hat er potenzielle Konkurrenten im Kampf um die Parteiführung kaltgestellt – der gewiefte Minderheitenführer im Senat, Mitch McConnell, hat versucht, sich Trump entgegenzustellen, ist aber gescheitert.

Partei im Griff

Sollte es nun ein republikanischer Amtsträger an der gebotenen Gefügigkeit vermissen lassen, kann Trump diesen Ketzer ausbooten, indem er ein anderes Mitglied der Republikaner für eine gewisse Position unterstützt. Das ist der Grund, warum ihm eine große Zahl gewählter Republikaner beipflichtet, obwohl sie ganz genau wissen, dass seine Behauptungen zur Wahl ebenso haltlos sind wie seine Erklärung, den Angriff auf das US-Kapitol am 6. Jänner nicht befeuert zu haben. Denn sie fürchten nicht nur Trump, sondern auch ihre eigenen Wähler, die zu seinen Anhängern zählen. Obendrein ist Trump der mit Abstand versierteste Spendensammler der Partei.

"Die Trennung von Migrantenkindern von ihren Familien an der Grenze war eine nationale Schande."

Trumps verlorene Wahl 2020 brachte zumindest seinen Vorstoß in Richtung Staatsmacht zum Erliegen, zu dem auch die politische Kontrolle über das Pentagon und das Justizministerium zählte, die jedoch beide eine gewisse Unabhängigkeit vom Weißen Haus wahren sollten. Trump wurde deshalb nicht zu einer noch größeren Gefahr für das Land, weil er bei aller Gerissenheit und Zähigkeit sowie seinem Unterhaltungswert zuweilen dumm agiert: Er gerät ins Wanken, weil er den Bogen überspannt.

Rechtlich befindet er sich in Gefahr, weil er versucht hat, einige offizielle Vertreter der Bundesstaaten zur Manipulation von Wahlergebnissen zu zwingen. Seine Forderungen, politische Gegner strafrechtlich zu verfolgen, wurden sogar dem bis dahin zurückhaltenden Justizminister William Barr zu viel. Und die Trennung von Migrantenkindern von ihren Familien an der Grenze war eine nationale Schande.

Entschlossene Feindin Trumps: Liz Cheney.
Foto: AFP / Mandel Ngan

Kein Widerspruch

Seine Forderung, die Republikaner im Repräsentantenhaus mögen Liz Cheney aus der Fraktionsführung ausschließen – weil sie lautstark darauf beharrte, dass Trumps Lügen über eine gestohlene Wahl eine Bedrohung der Verfassung darstellten – und sie durch die Opportunistin Elise Stefanik aus New York ersetzen, ließen Cheney zu einer weitaus entschlosseneren Feindin werden. Tatsächlich hatte das Argument der Republikaner etwas für sich, wonach es etwas ungünstig ist, wenn eine Person der Parteiführung im Repräsentantenhaus eine unverblümte Kritikerin der vorherrschenden, wenn auch fehlgeleiteten Parteiposition ist. Aber um einen offensichtlicheren Punkt konnten die Republikaner nicht herumkommen, dass sie nämlich Widerspruch – in einer grundlegenden Verfassungsfrage – zum Schweigen brachten.

"Die Unterdrückung von Wählern gilt bei den Republikanern als Schlüssel zum Sieg."

Bei der Spaltung in der Republikanischen Partei hinsichtlich der großen Lüge geht es nicht nur um die Vergangenheit; sie könnte auch die Zukunft der Partei entscheiden. Joe Bidens Sieg bei den Stimmen des Wahlkollegiums war knapp. Wären nur etwa 43.000 Stimmen in drei Staaten (Georgia, Wisconsin und Arizona) nicht auf ihn entfallen, hätte das Ergebnis vollkommen anders ausgesehen. Und jetzt beeilen sich die Republikaner auf Ebene der Bundesstaaten, Gesetze zu verabschieden, die es Afroamerikanern erschweren sollen, zu wählen, denn ungeachtet der Unmoral dieses Ansinnens gilt die Unterdrückung von Wählern bei den Republikanern als Schlüssel zum Sieg bei Präsidentschaftswahlen. Diese Gesetze könnten es Biden oder anderen Demokraten erschweren, das Wahlergebnis 2020 noch einmal zu erreichen.

Wir US-Amerikaner behaupten, ein Land zu sein, das der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist. Aber eine Demokratie kann ohne freiwillige Zusammenarbeit, Vertrauen und Zurückhaltung nicht erfolgreich sein. Die Gesetze setzen sich nicht von selbst durch, und es gibt einen guten Grund, warum die Nominierungen für den Obersten Gerichtshof jetzt Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen sind. Obwohl der Oberste Gerichtshof Trumps Exzessen manchmal Grenzen setzte, befindet er sich nach Trumps Präsidentschaft nun für einige Zeit fest in konservativer Hand.

Wenn Schlüsselfiguren konsequent in böser Absicht handeln, werden uns Gesetze am Ende nicht schützen. Deshalb sind Trump und die von ihm losgetretene Bewegung eine derartige Bedrohung für unsere Verfassungsdemokratie. (Elizabeth Drew, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 24.5.2021)