Israelische Jugendliche Mitte vergangener Woche außerhalb von Ashdod, mit über 220.000 Einwohnern eine der am dichtesten besiedelten Städte Israels.

Foto: AFP / Ahmad Gharabli

"Man sollte die da unten einfach wegräumen", sagt der Kioskverkäufer. Um den Satz zu unterstreichen, schiebt er mit der Hand imaginierte Brösel von der Theke. "Die da unten" – das sind die Terrorgruppen im Gazastreifen. Sie haben in den vergangenen zehn Tagen 4000 Raketen Richtung Israel abgefeuert. Jede zehnte dieser Raketen wäre hier eingeschlagen, in der Hafenstadt Ashdod. Es ist dem Abwehrschild Iron Dome zu verdanken, dass es nicht so weit kam.

Die Opferzahl wäre verheerend gewesen. In Ashdod reiht sich Wohnturm neben Wohnturm. Im Jahr 1961 wohnten hier 4600 Menschen, zehn Jahre später schon 40.000. Jetzt ist es bald eine Viertelmillion. Die Stadt wuchs rasant. Und so sieht sie auch aus. Anders als sozialistische Plattenbausiedlungen heißen die Viertel aber nicht "Freiheit" oder "Jugend". Sie tragen gar keine Namen, sondern Ziffern.

Hitzige Diskussionen

Im kleinen Kiosk in Viertel Nummer sechs träumen die Grätzelbewohner von einer Waffenruhe, die ganz anders aussieht als die, auf die sich Israels Regierung am späten Donnerstagabend nach dreistündiger Sitzung des Sicherheitskabinetts schließlich einließ: Während Lottoscheine und Zigarettenpackungen über die Budel wandern und der Kioskverkäufer mit leichtem Widerwillen für einen Kunden ein Fax verschickt, sind sich alle einig, dass ein etwas längerer Raketenbeschuss besser wäre als ein vorzeitiges Ende der Kämpfe.

Viele Sätze fliegen an diesem Nachmittag durch den Laden, sie alle lassen sich auf eine Botschaft verdichten: besser ein besiegter Gegner als ein geschwächter.

Doch darum, die Hamas zu besiegen, ging es der israelischen Regierung diesmal nicht. Die Armee verfolgte ein anderes Ziel. Und dieses, so verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu am Donnerstag spätabends, habe man erreicht: "Signifikante Erfolge" seien erzielt worden. Ein ranghoher Offizier sagt, man habe die Terrorgruppen im Gazastreifen in ihrer Aufrüstung "um Jahre zurückgeworfen".

Bruch der Spielregeln

In allen offiziellen Statements heißt es nun, dass man die "Balance wiederhergestellt" habe. Dass die Hamas Raketen Richtung Jerusalem abgefeuert hatte, sei ein provokanter Bruch der Spielregeln gewesen. "Dass wir mit solcher Härte antworten würden, hat aber auch die Hamas überrascht", meint der Offizier. Mit anderen Worten: Die Abschreckung funktioniert wieder.

In manchen Texten kommt der wichtigste Satz aber erst zum Schluss. Und in der knappen Pressemitteilung des Premierministerbüros, die am Donnerstag nach der Verkündung des Waffenruhebeschlusses verschickt wurde, heißt es am Ende recht spröde: "Es ist die Realität vor Ort, die über die Zukunft dieses Einsatzes entscheidet." Übersetzt: Wenn auch nur eine Rakete Richtung Israel fliegt, kann alles wieder von vorne losgehen.

Jetzt herrscht aber erst einmal Waffenruhe. Mindestens 243 Menschen sind in Gaza laut palästinensischen Angaben bei den Gefechten ums Leben gekommen; die Zahl erhöht sich weiter, weil immer noch Leichen aus dem Schutt geborgen werden. In Israel starben zwölf Menschen an den Folgen des Raketenbeschusses.

Auf internationalen Druck hin hatte Israel einer Waffenruhe zugestimmt, ohne auch nur eine einzige Forderung an die Terrorgruppen zu stellen. Das sorgt in Israel für viel Kritik – in den Palästinensergebieten wird es gefeiert. Nun beginnen aber erst die Verhandlungen über konkrete Bedingungen, damit aus der Waffenruhe auch ein Waffenstillstand wird.

Es reicht ein Funke

In der Vermittlerrolle steht Ägypten. Beide Seiten, Israel und die Hamas, werden nun Forderungen stellen, die für die jeweils andere Seite womöglich inakzeptabel sind: Die Hamas verlangt unter anderem mehr Rechte für Palästinenser in Jerusalem, Israel die Auslieferung der Leichname zweier getöteter israelischer Soldaten. "Ich glaube nicht, dass sich das in einem Monat regeln lässt", sagt Amos Yadlin, früherer Militärgeheimdienstchef in Israel.

Jeder Funke kann den nun eingedämmten Brandherd wieder entzünden. Der Funke könnte in zweieinhalb Wochen aus dem israelischen Höchstgericht kommen. Dort steht dann eine heikle Entscheidung an: Die Frage, ob mehrere palästinensische Familien im Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah ihre Häuser verlassen müssen oder nicht.

Die bevorstehende Zwangsräumung ist längst viel mehr als ein lokaler Konflikt. Sie wurde für viele Palästinenser zum Symbol für ihr Gefühl, immer weniger Raum zum Leben zu haben, während sich die jüdischen Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem weiter ausbreiten dürfen.

Zwangsräumungen

Das Höchstgericht hätte schon vor zwölf Tagen über die Zwangsräumungen entscheiden sollen. Die Eskalation auf den Straßen Jerusalems bewegte das Gericht dazu, es um einen Monat zu verzögern. Doch da war es schon zu spät: Die Hamas hatte die Proteste längst für sich vereinnahmt. Sie heizte sie weiter an.

Auch die israelische Polizei leistete ihren Beitrag. Bilder von Blendgranaten in der für Muslime heiligen Al-Aqsa-Moschee, noch dazu im Ramadan – für die Hamas war das Gratispropaganda erster Güte. Und sie antwortete mit der ultimativen Demonstration ihrer Macht. Sie feuerte Raketen Richtung Jerusalem. Und verwandelte den politischen Konflikt in einen militärischen.

Die für alle Seiten emotional aufgeladene Frage, wem Ostjerusalem gehört, steht also in gut zwei Wochen vor Gericht. "Das wird dann der Test sein, ob unsere Abschreckung diesmal erfolgreich war", sagt Militärexperte Yadlin. Sollte das Gericht grünes Licht für die Zwangsräumungen geben, wird Hamas dann erneut Raketen abfeuern? Israel hat mit massiven Luftangriffen zwar militärische Stärke bewiesen. Das gilt aber auch für die Hamas.

Zu einer ersten Zerreißprobe des fragilen Nichtangriffsdeals kam es schon am Tag, an dem die Waffenruhe begann. Besucher der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem skandierten Pro-Hamas-Parolen, die israelische Polizei feuerte Blendgranaten. Zuvor hatte die Hamas behauptet, Israel habe ihr zugesichert, sich künftig von Al-Aqsa und Sheikh Jarrah fernzuhalten – was von Israel umgehend dementiert wurde.

"Wer zahlt, schafft an"

Während in den Palästinensergebieten nun an mehreren Orten mit Feuerwerken der "Sieg" über Israel gefeiert wird, sind auch in Israel nicht alle überzeugt, dass es wirklich gelungen ist, der Hamas eine Lektion zu erteilen.

Kritik kommt nicht nur von Netanjahus Gegnern, sondern auch aus dem eigenen Lager. Viele werfen Netanjahu vor, nach dem Prinzip "Wer zahlt, schafft an" entschieden zu haben – und sich den Forderungen der USA in größerem Ausmaß verpflichtet zu fühlen als den Anliegen der Israelis.

"Putin hätte diesen Hamas-Teufeln längst den Garaus gemacht", sagt Levy, ein Mittsiebziger aus Russland, der seit den Neunzigerjahren in Ashdod lebt und auf seinem Rollator sich und die schweren Einkaufstaschen nach Hause schleppt. Für den russischen Präsidenten kann sich Levy ja eigentlich nicht erwärmen. Für dieses kurze Gedankenspiel und für den Traum von einem Leben ohne Raketenbeschuss und Sirenen aber umso mehr. (Maria Sterkl aus Ashdod, 21.5.2021)