Es ist der 25. Mai 2020, Minneapolis, Minnesota. Der Memorial Day, an dem die USA ihrer Kriegstoten gedenken, neigt sich dem Ende zu. Kurz vor 20 Uhr geht, wie Überwachungsbilder später zeigen, im Cup-Foods-Supermarkt an der Chicago Avenue in Minneapolis ein Mann zur Kasse, um eine Packung Zigaretten zu kaufen. Weil seinem Gegenüber am Schalter ein 20-Dollar-Schein verdächtig vorkommt, ruft der Mitarbeiter danach die Polizei. Reine Routine, sagt dieser später – auch wenn der Kunde "ziemlich betrunken" gewirkt habe. Einkaufende, die mit Falschgeld zahlen, seien sich dessen meist nicht bewusst. Sie gälten nicht als Verdächtige, die Polizei wolle im Normalfall nur wissen, wo die Scheine herkämen.

Etwa 25 Minuten später ist George Floyd – der Mann, der die Zigaretten kaufen wollte – tot. Um ihn herum haben sich Menschen gesammelt, unter ihnen die 17-jährige Darnella Frazier. Sie hat vieles von dem, was sich ereignet hat, auf Video aufgezeichnet. Neun Minuten und 29 Sekunden, die um die Welt gehen sollten.

Das, was darauf zu sehen ist, wird auch die USA verändern. Das jedenfalls ist es, was man damals glaubt. Demonstrierende fordern Geldentzug für die Polizei, die Politik verspricht Reformen, Medien kündigen an, alte Traditionen zu prüfen und mehr gegen Rassismus zu tun. Ein Jahr später ist Ernüchterung eingekehrt, der Reformeifer blieb hinter den Hoffnungen zurück. Dass sich in Kultur und Denken vieler Menschen etwas bewegt hat, ist aber schwer übersehbar.

"I can’t breathe"

Dass das so ist, liegt auch an der Prägnanz des Videos von Frazier und dessen, was darin zu sehen ist. Derek Cauvin, Polizist, der sein Knie in den Hals Floyds drückt, den Blick bestenfalls teilnahmslos, auch als Floyd sich längst nicht mehr bewegt. "I can’t breathe": Der Satz, den Floyd mehrfach sagt und der vieles symbolisch ausdrückt. Er war schon zuvor Slogan der Black-Lives-Matter-Bewegung gewesen. Eric Garner hatte ihn 2014 insgesamt elfmal ausgesprochen. Der 43-jährige Landschaftsgärtner war 2014 in Staten Island von Polizeibeamten erwürgt worden, nachdem er angeblich versucht hatte, einzelne Zigaretten aus einem Päckchen ohne Zollstempel zu verkaufen.

"I can't breathe" als symbolischer Slogan der Black-Lives-Matter-Bewegung.
Foto: EPA/ANDY RAIN

Auch Garners Tod war auf Video aufgezeichnet worden, auch da hatte es Proteste gegeben. Doch die Reaktionen auf die Tötung George Floyds, die Geschworene im April 2021 als Mord zweiten Grades beurteilten, waren anders. Vieles, was bis dahin oft wegdiskutiert, bewusst nicht gesehen worden war, war nun kaum zu leugnen.

Proteste überall

Obwohl genau das das Erste ist, was passiert: In der Nacht auf 26. Mai 2020, Stunden nach Floyds Tod, spricht die Polizei in einer Aussendung noch von einem "medizinischen Vorfall während einer polizeilichen Amtshandlung". Auch das trägt zum Ärger bei.

Bürgermeister Jacob Frey präsentiert wenige Stunden später eine andere Version, in der er den Beamten Schuld gibt. Wenige Stunden später entlässt er die Polizisten aus dem Dienst. Proteste beginnen dennoch kurz darauf, vorwiegend um Minneapolis. Sie sind zunächst friedlich. Später kommt es zu Gewalt.

Bei den Protesten kommt es auch zu Gewalt, die die Republikaner für ihre politischen Zwecke nützen.
Foto: APA/AFP/CHANDAN KHANNA

In den Tagen darauf breiten sich Nachricht, Video und Demonstrationen auf das ganze Land aus. Man erinnert auch an andere schwarze Opfer, etwa Breonna Taylor und Ahmaud Arbery, die ebenfalls 2020 erschossen wurden. Taylor, eine Krankenschwester, in ihrem Schlafzimmer – als Unbeteiligte bei einer Polizeirazzia in Kentucky. Arbery, nachdem er beim Joggen in Georgia einem weißen Ex-Polizisten "verdächtig erschien".

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George Floyd, Breonna Taylor und Ahmaud Arbery sind prominente Fälle rassistischer Polizeigewalt, aber bei weitem nicht die einzigen.
Foto: REUTERS/Jeenah Moon

Die drei Fälle sind bei weitem nicht die einzigen, die einem ähnlichen Muster folgen. Die Statistiken sind schnell gefunden: 2020 waren 28 Prozent aller von der Polizei getöteten Menschen Afroamerikaner, sie machen aber nur 13 Prozent der Bevölkerung aus. Schwarze haben eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit, von der Polizei erschossen zu werden, als Weiße. Vielen waren die Zahlen bis dahin unbekannt oder jedenfalls bloße Statistik ohne Gesicht – auch das ändert sich nach dem Tod George Floyds.

Bewusstsein in Medien

Und der gesellschaftliche Wandel geht noch weiter: Waren das Beklagen von systemischem Rassismus und der Protest dagegen zuvor oft ausschließlich von Schwarzen getragen, so schlossen sich vergangenes Jahr auch viele Weiße den Demonstrationen an. Im Sommer 2020 entschieden sich sowohl die "New York Times" als auch die Nachrichtenagentur Associated Press, deren "Style Book" in der Branche oft als Goldstandard gilt, "Black" mit großem Anfangsbuchstaben zu schreiben. Damit wird deutlich, dass es sich nicht um eine biologistische Kategorie, sondern um ein soziokulturelles Konstrukt handelt. "Kleingeschrieben ist es eine Farbe, keine Person", schrieb die AP. "Es reflektiert unser Ziel, all den Menschen und Communitys, über die wir berichten, respektvoll gegenüberzutreten", hieß es vonseiten der "New York Times".

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Viele weiße Menschen solidarisierten sich mit der Black-Lives-Matter-Bewegung.
Foto: REUTERS/Fabrizio Bensch

Ab Juni breiteten sich die Proteste weltweit aus, auch in Wien kamen am 4. Juni mehr als 50.000 Menschen zusammen. In den USA ist unterdessen "Defund the Police" der Slogan, der bei den Protesten zu hören ist. Er gibt auch dem Wahlkampf eine neue Richtung. Zunächst sind es die Demokraten, die unter Druck stehen. Sie, und auch ihr Präsidentschaftskandidat Joe Biden, stehen zwischen Prinzipien, einem progressiven Parteiflügel, der viele der Forderungen der Proteste mitträgt – und Angst, mit allzu viel Zustimmung zu den Demonstrationen Stimmen in der Mitte zu verlieren. Biden wird später Gewalt bei den Protesten verurteilen, moderate Reformen in der Polizei aber befürworten.
Tage darauf zeigen Umfragen: Eine Mehrheit der US-Bürger erkennt das Problem des systemischen Rassismus in der Polizei und stimmt der Forderung nach Reformen zu, nicht aber jener, Geld zu entziehen. Für Biden wird es später reichen – er wird im November knapp zum Präsidenten gewählt, Kamala Harris erste schwarze Vizepräsidentin.

Die Republikaner sind trotzdem nicht ganz unerfolgreich in ihrem Versuch, das Unbehagen zu verstärken, die Demonstrierenden gingen zu weit. Sie stellen die Proteste – bei denen es auch tatsächlich immer wieder zu Gewalt kommt – als anarchistisches Spektakel dar. Allen voran Präsident Donald Trump, der schon drei Tage nach dem Mord die Demonstranten pauschal als "Schlägertypen" bezeichnet, ihnen mit dem Militär droht und Tränengas vor dem Weißen Haus einsetzt, während er sich mit einer Bibel vor einer Kirche ablichten lässt. Er baut auf Parolen von "Recht und Ordnung". Für den Wahlsieg reicht das später nicht. Wohl aber genügt es, um die Gesellschaft noch weiter zu polarisieren.

Donald Trumps Auftritt vor der St. John's Church wurde als besonders grotesk bewertet: Der damalige US-Präsident ließ sich mit einer Bibel in der Hand fotografieren, während die Polizei wenige Meter entfernt mit Tränengas gegen Demonstrierende vorging.
Foto: EPA/SHAWN THEW

Im April 2021 folgt schließlich der Prozess gegen den nunmehrigen Ex-Polizisten Derek Chauvin, der Floyd getötet hat. Auch das Verfahren zeigt, dass sich manches ändert, anderes aber nicht. Chauvin wird in allen Anklagepunkten – auch Mord zweiten Grades – schuldiggesprochen, eine Seltenheit bei Anklagen gegen Polizisten. Doch während des Prozesses wird unweit des Tagungsorts erneut ein Schwarzer erschossen. Offenbar hat die Polizistin, die den bei einer Verkehrskontrolle flüchtenden Daunte Wright mit einem Taser aufhalten wollte, versehentlich zur Dienstwaffe gegriffen.

Quelle: Mapping Police Violence

Politische Blockade

Politische Reformen lassen in vielen Fällen noch auf sich warten. Der im Juni 2020 von den Demokraten präsentierte "George Floyd Justice in Policing Act" wurde zweimal im Repräsentantenhaus beschlossen. Er soll es einfacher machen, Polizisten zur Verantwortung zu ziehen, Hürden für Anklagen abbauen, den Einsatz von Body-Kameras zum Standard machen, Trainings verbessern, Würgegriffe verbieten. Durch den Senat schaffte er es bisher nicht. Die Demokraten wiederum blockierten den vom republikanischen Senator Tim Scott vorgeschlagenen Justice Act. Dieser sah weniger verschärfte Kontrollen der Polizei vor und baute nicht auf landesweite Maßnahmen, sondern darauf, durch Finanzierungsvorgaben Druck auf US-Staaten auszuüben.

Gehandelt wird allerdings auf lokaler Ebene. Wobei gerade Minneapolis zeigt, wie schwierig es sein kann. Die Stadt beschließt 2020 zunächst eine Auflösung der Polizei – doch später scheitert der Plan. Allerdings: Seit 2021 gibt es zusätzliches Geld für Maßnahmen, die Polizeieinsätze dort verhindern sollen, wo auch Sozialarbeit, Ambulanzen, Psychologie etc. sinnvoll(er) eingesetzt werden können. Auch das war und ist eine Forderung der "Defund the Police"-Bewegung. (Manuel Escher, Noura Maan, 24.5.2021)