Auch Egon Theiner hat beim Trailrunning schon grenzwertige Situationen erlebt. "Ich würde sowieso nie auch nur eine Sekunde lang mit einem Veranstalter diskutieren, der abbricht. Aber du hast halt immer auch ein paar Idioten dabei, die motzen und sich über den Abbruch aufregen", sagt der Hobbyläufer.

Foto: Philipp Reiter

Weit weg und dennoch so nahe. Auch die österreichische Trailrunning-Community zeigt sich tief erschüttert, nachdem bei einem 100 km langen Ultramarathon (mit mehr als 2.000 Höhenmetern) im Steinwald am Gelben Fluss in der chinesischen Provinz Gansu am Samstag 21 Menschen ums Leben gekommen sind. "Es ist unendlich tragisch", sagt Egon Theiner. "Man kann sich das eigentlich gar nicht vorstellen, was da passiert ist. 172 sind losgelaufen, und 21 sind nicht mehr zurückgekommen." Theiner, ehemaliger Sportjournalist und nun Verleger, hat vor wenigen Jahren das Ultratrailrunning für sich selbst entdeckt und schon zahlreiche Ultraläufe in den Beinen, er ist Hobbyist und kein Spitzenläufer, aber ein Kenner der Szene, der auch schon mehrere Bücher zu dem Thema herausgegeben hat.

Zwei Tote beim Zugspitzlauf 2008

Wie viele andere fühlt sich Theiner an den Zugspitzlauf 2008 erinnert, bei dem ein 41-Jähriger und ein 45-Jähriger ums Leben kamen. Damals gingen 700 an den Start, auch da herrschten noch recht angenehme Temperaturen, doch unterwegs kam es zu einem Temperatursturz samt Schneefall und böigem Wind. Die Staatsanwaltschaft warf dem Veranstalter fahrlässige Tötung und Körperverletzung vor und vertrat die Ansicht, er hätte die Ausrüstung der Teilnehmer kontrollieren oder das Rennen absagen oder vorzeitig beenden müssen. Das Verfahren endete allerdings mit einem Freispruch, das Gericht sah eine Schuld des Organisators nicht als erwiesen an.

Theiner sieht nicht die Veranstalter allein in der Pflicht, sondern er verweist auch auf die Eigenverantwortung der Teilnehmer.
Foto: egoth Verlag

Auch Theiner spricht, ohne die Situation beim Lauf in China genau zu kennen, über Verantwortung. Und auch in seinen Augen kann sie zumindest nicht allein beim Veranstalter liegen. "Es ist einfach so, dass du bei solchen Läufen immer deine Pflichtausrüstung mithaben musst, eine Jacke, ein Erste-Hilfe-Set."

Vom Lauf in China hört man, dass lange, den ganzen Körper bedeckende Kleidung beispielsweise nur empfohlen, aber nicht vorgeschrieben war. Theiner maßt sich kein Urteil darüber an, "ob diese Tragödie natur- oder menschengemacht war", eine Kombination ist sowieso nicht auszuschließen. Der Lauf war bei Schönwetter gestartet worden, doch 20 bis 30 Kilometer nach dem Start kam es zu einem Wetterumschwung mit Eisregen, Hagel, Sturmböen und Minusgraden. Die meisten Teilnehmer befanden sich in unwegsamem Gelände, etliche verirrten sich. Hunderte Rettungskräfte waren im Einsatz.

Abbruch beim Großglockner Ultra Trail 2019

Bei den Ultraläufen, die er selbst schon absolvierte, hat sich Theiner stets sicher gefühlt. Insbesondere auch beim Großglockner Ultra Trail 2019, der vorzeitig abgebrochen wurde, weil ein Gewitter aufgezogen war. Da waren erst 55 von circa 360 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Ziel. "Der Abbruch war völlig richtig", sagt Theiner. "Ich würde sowieso nie auch nur eine Sekunde lang mit einem Veranstalter diskutieren, der abbricht. Aber du hast halt immer auch ein paar Idioten dabei, die motzen und sich über den Abbruch aufregen."

Zur selben Zeit wurde damals beim Südtirol Ultra Sky Race in einem Gewitter eine norwegische Läuferin von einem Blitz getroffen und starb. Künftig wird dieser Event nicht mehr Ende Juli, sondern Ende August stattfinden, da sollte das Wetter stabiler sein. Allerdings sind dann auch die Tage kürzer, weshalb das Feld, mit Stirnlampen ausgerüstet, länger in der Dunkelheit unterwegs sein wird.

Persönlicher Everest

Die Frage, ob man sich überhaupt solchen Strapazen und auch Risiken aussetzen muss, quittiert Theiner mit einem Schulterzucken. Ohne Risiko wäre die Menschheit nicht weit gekommen, wären Edmund Hillary und Tenzing Norgay nicht auf dem Everest gestanden. Ultraläufe sind für viele eine Herausforderung, ein persönlicher Everest. "Die meisten", sagt Theiner, "wollen die Natur fühlen und Spaß an der Bewegung haben. Man läuft nicht gegen andere, dazu ist der Wettbewerb mit seinen 15, 20 und mehr Stunden zu lang, da kann so viel passieren, sondern man läuft nur für sich selbst."

Eine gewisse Eitelkeit spielt mit, aber: "Wenn es anstrengend ist und richtig weh tut, bringt dich die Aussicht auf 15 Minuten Ruhm nicht ins Ziel."
Foto: egoth Verlag

Aber natürlich ist auch Ehrgeiz dabei: "Man schaut, was möglich ist. Jeder hat seine Ziele. Und viele wollen sich mit den Fotos in den sozialen Medien ihre Likes abholen." Eine gewisse Eitelkeit spielt mit, Theiner nimmt sich da nicht aus. "Aber ich poste auch, wenn ich nicht ins Ziel gekommen bin, und überhaupt: Nur deswegen zu laufen geht sich nicht aus. Wenn es anstrengend ist und richtig weh tut, bringt dich die Aussicht auf 15 Minuten Ruhm nicht ins Ziel. Da müssen die Beweggründe tiefer und wertvoller sein."

Tückische Wetterumschwünge im Gebirge

Wetterprognosen sind speziell in den Bergen keine einfache Angelegenheit. Auch deshalb braucht es sehr besonnene Veranstalter, die es laut Theiner in Österreich durch die Bank gibt. Das Thema Sicherheit muss absolute Priorität haben. Theiner: "Das haben im Gebirge viele schon erlebt: Strahlend blauer Himmel, und zehn Minuten später schüttet oder schneit es." Teilnehmer an Sportbewerben machen sich häufig Stress, nicht nur weil sie ein selbst gestecktes Ziel erreichen wollen. "Wer an einem Ultra teilnimmt, hat oft viel Geld dafür ausgegeben, hat sich extra ein paar Tage Urlaub genommen. Der will in einem ‚all inclusive‘-Setting dann nicht aufgeben, sondern der will unbedingt ein Erfolgserlebnis."

Der Hobbyist Theiner hält sich in solchen Situationen gerne den Bergsteiger vor Augen, der hundert Höhenmeter vor dem Gipfel doch lieber umdreht. "Das ist der beste Bergsteiger." Oder er denkt an Niki Lauda, der 1976 den Grand Prix von Japan bei starkem Regen vorzeitig beendet und auf den WM-Titel gepfiffen hat. Theiner gibt aber zu: "Ich spiel auch nicht in einer großartigen Liga mit." Vorne, bei den Besten, wird bei ultralangen Läufen jedes Gramm Gewicht gespart. Auch unter den Toten in China waren einige Stars der Szene, allen voran Jing Liang, der den Lauf mehrmals gewonnen hatte und schon Nummer drei der Welt war.

Schwierige Rettungsaktion im Steinwald der chinesischen Provinz Gansu.
Foto: imago images/Xinhua

Zunehmende Popularität

Ultra- und Ultratrailläufe sind oft in größere Laufevents eingebunden, auch im Steinwald am Gelben Fluss gab es etliche kürzere Distanzen und insgesamt 10.000 Teilnehmer. Jedem Finisher im Ultramarathon über 100 Kilometer winkten 200 US-Dollar, der Sieger sollte 1800 US-Dollar erhalten. Auch dieser Preisgelder wegen ist Ultrarunning in China in jüngerer Vergangenheit sehr populär geworden, es gibt übers Jahr verteilt über 300 Events. Schon in Österreich, nur um eine Relation herzustellen, gibt es 35 bis 40 Veranstaltungen mit insgesamt circa 25.000 Teilnehmern. Die meisten reisen aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland an. Hierzulande gibt es 400 bis 500 Ultra(trail)läuferinnen und Ultraläufer, die zu Bewerben antreten, das Feld ist recht überschaubar.

Doch selbst global gesehen sind es nicht mehr als ein, zwei Dutzend Ultraläufer, die so viel an Preis- und Sponsorengeldern lukrieren, dass sie von ihrem Sport tatsächlich leben können. "Eigentlich geht es ja um nichts", sagt Egon Theiner, "und dann sind plötzlich 21 Menschen tot." (Fritz Neumann, 25.5.2021)