ORF-Chef Alexander Wrabetz reagierte rasch, als der von der Jungen ÖVP zur Verfügung gestellte Livestream vom JVP-Bundestag voriges Wochenende via Twitter zum Symbol geriet, wie sich der ORF drei Monate vor der Generalswahl bei der Kanzlerpartei mit der Mehrheit m Stiftungsrat anbiedere. Ein bürgerlicher ORF-Aufsichtsrat erinnert dazu an ein vorproduziertes Video in der TVthek und einen "Online-Event der SPÖ", das gut ein Jahr zurückliegt.

ORF-General Wrabetz gab gleich am vorigen Montag nach der JVP-Debatte eine interne Anweisung: Künftig müsse der Chefredakteur von ORF 2 über Livestreams entscheiden. Es könne nicht sein, dass der für die TVthek zuständige "Online-Abteilungsleiter" entscheide, worüber die TV-Nachrichten berichten müssen, sagte Wrabetz vorige Woche im STANDARD-Interview. Denn der ORF darf laut Gesetz bisher keine Sendungen alleine online zeigen – erst ein Bericht etwa in einer "ZiB" legitimiert solche Livestreams.

"Nicht gebraucht"

Die "Online-Abteilung" (Wrabetz) hat über Jahre Pressekonferenzen und Events auch von Parteien übertragen und darüber entschieden, bestätigte der ORF-General im Interview. Die TVthek leitet der für Online zuständige Technik-Vizedirektor Thomas Prantner.

Die neue Anweisung nach mehreren Jahren gelebter Livestream-Praxis erklärte Wrabetz so: "Es kann nicht sein, dass die Online-Abteilung entscheiden kann, was in der "ZiB" kommt, weil es für den Livestream TV-Berichterstattung braucht. Kanzlerstatements zu den aktuellen Fragen gab es ohnehin, also hätte es das Parteivideo dafür nicht gebraucht."

Andreas Kratschmar, der ÖVP zugerechneter Publikums- und Stiftungsrat, erinnert aus dem Anlass an ein anderes, vorproduziertes Video, das schon ein Jahr zuvor in der TVthek gelaufen sei, wie auch ORF.at am 1. Mai 2020 berichtete.

Foto: Screenshot ORF TVthek

Die TVthek betitelte den Beitrag zum von der SPÖ "präsentierten" Film "über die 130-jährige Geschichte des 1. Mai und die große Bedeutung für die Sozialdemokratie" mit "Hoch der 1. Mai – Heute mehr denn je!".

Kratschmar findet "bezeichnend, dass der ORF offenbar seit vier Jahren solche Streams anbietet, es dafür aber keine klaren Richtlinien gibt".

Der Aufmarsch der Sozialdemokratie zum 1. Mai ist – nicht nur bei Pfiffen gegen den Parteichef – alljährlich Gegenstand der Berichterstattung vieler Medien, auch des ORF. Die Veranstaltung auf Ring und Rathausplatz in Wien entfiel 2020 pandemiebedingt.

57 Nutzer

2020 gab es nach Angaben vom Jahresbeginn mehr als 400 unkommentierte Live-Streams von Pressekonferenzen, Statements, Reden etc.

Der Bundestag der JVP am vorigen Wochenende stieß in der TVthek jedenfalls auf überschaubares Interesse: Wrabetz sprach in der "Kleinen Zeitung" von 57 Nutzern, im STANDARD-Interview von 60: "Wegen eines Streams, den 60 Leute sehen, interveniert niemand. Das war auch ein bisschen Wichtigmacherei vom ORF."

Mehrere Publikumsräte verlangten am Donnerstag bei der jüngsten Sitzung Übersichten, welche Veranstaltungen und Inhalte von der TVthek in den vergangenen Jahren eigenständig angeboten wurden.

Corona-Pressekonferenzen

Die TVthek veröffentlichte zu Jahresbeginn eine Übersicht der meistgesehenen Livestreams im Jahr 2020 – die Top Ten waren etwartungsgemäß durchwegs Regierungspressekonferenzen zu Corona-Maßnahmen und -Lage. Die Pressekonferenz "Weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus" am 13. März 2020 zum Lockdownbeginn hatte demnach eine Durchschnittsreichweite von 100.568 Menschen und 308.204 Bruttoviews. Platz zehn hatte eine Reichweite von im Schnitt 12.940 und 45.909 Bruttoviews. (fid, 24.5.2021)