Böse Blicke, saure Mienen in der Koalition: Kanzler Kurz hat im Alleingang weitere Lockerungen verkündet, Gesundheitsminister Mückstein reagierte so deutlich, wie es sein Vorgänger Anschober nicht tat.

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Der Bundeskanzler hatte die Frohbotschaft für sich reserviert. Am Freitag vor Pfingsten kündigte Sebastian Kurz an, die derzeitigen Corona-Sicherheitsstandards weiter zu senken. An Abstandsregelungen, Sperrstunden und Quadratmeterbeschränkungen rüttelte der ÖVP-Chef – und löste damit eine politische Eskalationsspirale aus.

Den Startschuss für den Konflikt gab Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein. Der Grüne erinnerte Kurz daran, dass die Koalition ein anderes – nämlich gemeinsames – Vorgehen ausgemacht habe: Erst für kommenden Freitag ist ein Treffen mit den Landeshauptleuten und Experten geplant, um weitere Schritte zu besprechen. Statt die Menschen "mit unkonkreten Ankündigungen" zu verunsichern, müssten Fakten zählen, sagte Mückstein: "Mit mir gibt es keine Luftschlösser."

Der Kanzler legte dennoch nach. Nach einem verlängerten Wochenende der gegenseitigen Rüffel und Mahnungen meldete er sich am Montagabend beim EU-Gipfel in Brüssel zu Wort: Die nächsten Öffnungsschritte würden am 17. Juni erfolgen, das sei klar akkordiert und gehe aus der aktuellen Corona-Verordnung hervor, die tags zuvor ausläuft. Über andere Regierungsmitglieder wolle er kein schlechtes Wort verlieren, allerdings erwarte sich die Bevölkerung, dass "gearbeitet und nicht gestritten wird".

Dann die überraschende Wende: Nur wenige Stunden später in der ZiB2 überbot Mückstein regelrecht den Kanzler, indem er ankündigte, dass erste Lockerungen – er denkt an den Fall der Maskenpflicht im Freien – schon ab 10. Juni möglich seien. Er erklärte, dass sein Team dem Kanzler erst vergangenen Donnerstag die Vorschläge für Öffnungsschritte zu diesem Datum unterbreitet hätte. Lieber hätte er diese kommenden Freitag beim Gipfel gemeinsam beschlossen und kommuniziert, so der Minister. Weil der Kanzler aber alleine an die Öffentlichkeit getreten ist, lege er die Pläne nun eben auf diesem Weg offen.

Schlag und Gegenschlag

Vorangegangen war dem verwirrenden Schauspiel ein öffentlicher Schlagabtausch in der Koalition. Nach Mücksteins Replik auf Kurz‘ ersten Vorstoß war wieder die ÖVP an der Reihe. Ministerin Elisabeth Köstinger gab sich noch "verwundert", Klubchef August Wöginger bereits mehr oder minder empört. Mückstein wolle die Bürger im Sommer im Freien Maske tragen lassen, warf er dem Minister ungeachtet des Umstandes vor, dass dieser genau diese Regel infrage gestellt hatte. Nicht nur die Zahlen dürften entscheiden, monierte Wöginger: "Man braucht auch ein Gespür für die Menschen und Hausverstand."

Der Konter ließ keine zwei Stunden auf sich warten. Fahrlässig verlasse die ÖVP den akkordierten Weg, kritisierte Ralph Schallmeiner, Gesundheitssprecher der Grünen: "Wenn die Menschen etwas brauchen, dann ist es Sicherheit. Das Überdenhaufenwerfen von Vereinbarungen ist verantwortungslos."

Warum so harte Bandagen? Das sei doch offensichtlich, sagt Johannes Rauch, grüner Parteichef im öffnungserprobten Vorarlberg, im STANDARD-Gespräch: "Es handelt sich um eine von der ÖVP inszenierte Debatte, um von den Kalamitäten des Kanzlers rund um die drohende Anklage abzulenken." Man befinde sich aber in keinem Theaterstück, sondern in einer Pandemie: "Da darf Kurz nicht einfach den Boulevard entlang stolzieren und aus der Hüfte heraus entscheiden. Sonst machen wir im Überschwang die gleichen Fehler wie letzten Sommer."

Weil Kurz nicht zum ersten Mal versuche, den Gesundheitsminister zu übergehen, habe es eine klare Reaktion gebraucht. "Mückstein zeigt: So, wie man mit dem Rudi Anschober umgesprungen ist, spielt es das kein zweites Mal", sagte Rauch dem STANDARD – notabene, bevor Kurz wenig später in Brüssel ein Machtwort sprach. Ob sich die Grünen da schon früher hätten wehren sollen? "Man lernt eben dazu", sagt Rauch: "Der Rudi war halt auch eine gute Seele, die Geduld in Person."

Ein starkes Gegenüber zur ÖVP

Bei seiner Replik auf Kurz soll Mückstein zwar nicht ohne parteiinterne Absprache, aber aus eigenem Antrieb gehandelt haben. Die ÖVP müsse sich auf ein starkes Gegenüber einstellen, lautet die Botschaft, die die Grünen dieser Tage gerne betonen: Angesichts der türkisen Affären wäre es verhängnisvoller denn je, nur als Anhängsel des Partners zu erscheinen.

Aber auch aus türkiser Sicht hat der Konfrontationskurs Logik. Je mehr das Image des Kanzlers in der Debatte um seine angebliche Falschaussage im U-Ausschuss angekratzt ist, desto stärker ist der Anreiz, die eigene Autorität zu demonstrieren.

Aktuelle Zahlen liefern der ÖVP Argumente. Die Sieben-Tages-Inzidenz ist mittlerweile auf unter 50 Fälle je 100.000 Einwohner gesunken, mit 360 neuen Infektionen in 24 Stunden lag die Rate am Montag so niedrig wie seit dem Herbst 2020 nicht mehr. Prompt stimmen Landeshauptleute der ÖVP in den Ruf des Kanzlers ein: Die Vorarlberger wollen etwa Regeln für die Vereine lockern, die Niederösterreicher für Thermen und Messen.

SPÖ-Länder mahnen

Die SPÖ-geführten Länder machen da nicht mit. "Bei aller Euphorie sind wir dennoch in einer Pandemie", sagt Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser. Alle seien dazu aufgefordert, "größtmögliche Vorsicht walten zu lassen und den positiven Trend nicht zu gefährden" – das gelte "insbesondere für die Bundesregierung". Die Bevölkerung erwarte sich ein "abgestimmtes und auf Expertenvorgaben beruhendes Vorgehen".

"Wir verstehen diese Debatte nicht", sagt Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker: "Vereinbart war, weitere Schritte Ende dieser Woche zu diskutieren" und sich an diesen "vereinbarten Prozess zu halten". Auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil plädiert dafür, "weiter vorsichtig und verantwortungsvoll zu handeln". Einen kleinen Wunsch deponiert er allerdings: Die Sperrstunde sollte nach hinten verlegt werden, da sonst die Open-Air-Festivals im Burgenland noch bei vollem Tageslicht beginnen müssten.

Neue Lockerungsschritte sind beim Gipfel am Freitag nicht ausgeschlossen. Mückstein pocht darauf, dass solche kontrolliert mit Ländern und Experten abgesprochen werden – als prinzipieller Gegner weiterer Öffnungen will er sich aber keinesfalls präsentieren. (Gerald John, Fabian Schmid, red, 24.5.2021)