Der Bundespräsident hat ein neues Wort in den politischen Diskurs eingeführt: entbehrlich. Ansonsten hat Alexander Van der Bellen kurzfristig nicht viel erreicht mit seinem Appell für mehr "Anstand und Respekt" in der politischen Auseinandersetzung. Zum Pfingstwochenende ging es weiter hart zur Sache zwischen ÖVP und Grünen – diesmal in Sachen Corona. Als entbehrlich empfindet Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein die Versprechen des Bundeskanzlers, schon am Freitag dieser Woche über weitere Öffnungsschritte, etwa die Abschaffung der Maskenpflicht, zu beraten.

Die Reaktion Mücksteins wiederum verwunderte Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) in der Öffentlichkeit, veranlasste Sebastian Kurz persönlich, seine Öffnungsabsichten zu bekräftigen, danach die ÖVP-geführten Länder und am Ende des Pfingstwochenendes legte Kurz am Rande des EU-Gipfels in Brüssel noch einmal nach. Von Einigkeit oder abgesprochenem Vorgehen in der Regierung keine Spur. Türkis-Grün entwickelt sich immer mehr zur Koalition der Herzerl.

Sebastian Kurz nutzt die Gunst der Stunde. Er möchte mit der Öffnungsdebatte von seiner möglichen Anklage ablenken.
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Kühne Strategie

Abgesehen vom Stil und Umgang miteinander kam die neue Öffnungslust des Kanzlers überraschend. Man kannte ihn bis dato eher streng – vielleicht weil es auch die an Umfragen teilnehmende Bevölkerung gern streng hatte. Jetzt ist die Stimmung gekippt: Die Medien sind voll von Meldungen über illegale Partys nach der Sperrstunde, und Abstandhalten beim Einkaufen war gestern. Insofern ist noch mehr Laisser-faire in der Covid-Bekämpfung kühn – auch weil der ganz junge Teil der Bevölkerung noch nicht geimpft ist und wir von einer Herdenimmunität weit entfernt sind.

Kurz hat freilich ein feineres Sensorium dafür, was die Leute hören wollen, als dafür, was sie hören sollten. Die Öffnungsdebatte kommt ihm auch deswegen entgegen, weil sie von den Spekulationen um seine mögliche Anklage ablenkt. Zu diesem Zwecke kann man schon mal den eigenen Koalitionspartner überrumpeln. Hauptsache, viele Menschen glauben wieder daran, dass Kurz die Pandemie quasi im Alleingang besiegt hat.

Hilfreiche Opposition

In dem Bemühen der ÖVP, dieses Ziel bei Wählerinnen und Wählern zu erreichen, sind SPÖ und FPÖ gerade extrem hilfreich. Kaum eine Woche vergeht, in der die rote Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil einander keine speziellen sozialdemokratische Zärtlichkeiten ausrichten. Und bei den Blauen erklingen die öffentlichen Zuneigungsbekundungen von Kickl zu Hofer und umgekehrt so laut, dass sich manche Parteifreunde die Ohren zuhalten. Andere wiederum, wie der Niederösterreicher Udo Landbauer und der Wiener Dominik Nepp, würden gern mitrangeln um den ersten Platz in der FPÖ.

Für mühevolle Oppositionsarbeit bleibt bei all dem keine Zeit mehr. Wurden die Covid-Ausfallshilfen gerecht verteilt? Wird hunderttausenden Arbeitslosen wirksam geholfen, oder wird nur die Unterstützung gekürzt? Das ist offenbar weniger spannend als "Pam oder Dosko" und "Kickl oder Hofer".

Die ÖVP kann sich, im Sinne des Bundespräsidenten und des Koalitionsfriedens, wieder entspannen. (Petra Stuiber, 25.5.2021)