Im Dialog mit der künstlichen Intelligenz: Das interaktive Kunstwerk "Doing Nothing with AI 2.0" von Emanuel Gollob reagiert auf die EEG-Ströme der Besucher.
Foto: Thomas Raggam

Man fühlt sich unweigerlich an Terry Gilliams Film "Brazil" (1985) erinnert. In dessen an George Orwell orientiertem Science-Fiction-Szenario platzten immer wieder dicke Plastikschläuche wie Gedärm aus glatten Wandpaneelen hervor, Symbol einer undurchdringlichen, geheimen Vernetzung und Überwachung. Auch im altehrwürdigen Stiegenhaus des Graz-Museums winden sich schwarze Schläuche umeinander und klettern am Geländer empor.

Sie sind das räumliche Leitsystem der Ausstellung "Die Stadt als Datenfeld", die jetzt nach Corona-bedingter Verzögerung eröffnet wurde. Sie eröffnet Ausblicke in die digitale Zukunft, die teilweise längst Gegenwart ist. "Ein ungewöhnliches Thema für ein historisches Museum", sagt Otto Hochreiter, der die Ausstellung gemeinsam mit Peter Rantaša kuratiert hat. "Aber wir haben 2020 schon mit einer Ausstellung über das ungebaute Graz sozusagen die Geschichte der Zukunft erzählt, um die jetzige Schau thematisch vorzubereiten."

Mut zur Utopie

Die Kombination von Rückblick und Vorausblick zieht sich auch wie ein roter, Pardon, schwarzer Faden durch die auf zwei Geschoßen angelegte Ausstellung. Als Leitfigur und guter Geist aus der Vergangenheit schwebt der tschechische Philosoph und Kommunikationswissenschafter Vilém Flusser (1920–1991) durch die acht Themenräume, die auf seine Thesen Bezug nehmen und mit zahlreichen seiner Zitate gespickt sind.

Geboren in Prag, war Flusser 1939 vor den Nazis nach London geflüchtet und 1940 nach Brasilien emigriert, später kehrte er nach Europa zurück. In den 1980er-Jahren war er einer der Ersten, der sich mit den digitalen neuen Medien beschäftigte und in ihnen keine Bedrohung, sondern vor allem Chancen für die Menschheit sah, ein Zugehen auf das "Entwerfen von Schicksal" und den Mut zur Utopie.

Im Spiegelkabinett werden algorithmisch perfektionierte Idealpartner entworfen.
Foto: Thomas Raggam

Die Ausstellung ist Teil des bis September 2021 verlängerten Grazer Kulturjahrs 2020, das unter dem Motto "Wie wir leben wollen" zu Beiträgen über die urbane Zukunft aufgerufen hatte. Ein Open Call, der im Graz-Museum wörtlich genommen wird. "Vilém Flusser propagierte einen aufrechten Gang in die Zukunft und sah in der Technologie bei aller Kritik vor allem eine Befreiung der Menschheit," sagt Hochreiter. "Uns geht es darum, 30 Jahre nach seinem Tod seine Thesen an der Realität zu messen." Dabei soll es nicht um Zukunftsspekulationen gehen, sondern um die freie Entscheidung: wie wir leben wollen.

Diskriminierungstools

Dabei wird keineswegs nur eine heile Welt heraufbeschworen. Schon den Auftakt im Foyer bilden zwei konträre Kunstinstallationen: einerseits die eher affirmative "Die Welt als Datenfeld" von Peter Weibel – er leitet unter anderem das Forschungsinstitut für digitale Kulturen an der Universität für angewandte Kunst –, die sich am Informationsfluss berauscht, und andererseits die kritische Installation "Shadow Stalker" der US-Künstlerin Lynn Hershmann Leeson, die sich dem Predictive Policing widmet.

Diese Technologie identifiziert kriminelle Hotspots in Städten und will so Verbrechen voraussehen, bevor sie passieren, führt aber in Kombination mit Racial Profiling zur Diskriminierung: 2019 wurde Michael Oliver aus Detroit angeklagt, weil ihn die Software identifiziert hatte, bis sich herausstellte, dass sie ihn mit einem anderen Afroamerikaner "verwechselt" hatte, der ihm gar nicht ähnlich sah. Ein Fehler im System, der auch in Gilliams "Brazil" schon im Plot enthalten ist.

Labyrinthische Unterwelt

Die Stadt Graz will nicht Detroit oder Brazil sein, sie hat 2018 eine Digitale Agenda mit zwölf Leitsätzen (darunter Transparenz, Bildung, Kommunikation, Verantwortung und Inklusion) beschlossen, mit dem freundlichen Motto: "Die digitale Stadt ist immer für Sie da!" Auch sie ist via QR-Code mit der Ausstellung verknüpft.

Kern der Schau sind die wie aufwendige Erlebniswelten gestalteten Themenräume: "Städte entwerfen" teilt den Raum in eine schwarze labyrinthische Unterwelt und eine weiße Oberwelt, in der Bürger wie in den sozialen Medien als Masken und Avatare existieren: die Auflösung des Individuums.

Blick in die Zukunft: Vom Sofa aus lässt sich wahlweise durch ein schönes oder düster-dystopisches Graz navigieren
Foto: Thomas Raggam

Nebenan zeigt eine Videoprojektion zwei Zukunftsszenarien für Graz, das schöne Szenario mit Fahrrädern, Sonne und Heißluftballons, das düstere mit Hochhausmonstern, wo es (Augenzwinkern Richtung "Blade Runner") natürlich andauernd regnet. "Familien entwerfen" (als von algorithmisch perfektionierten Idealpartnern umschwebtes Spiegelkabinett) und "Sex entwerfen" (als Neon-Boudoir) thematisieren die Welt von Tinder und digitalem Begehren, "Arbeit entwerfen" die neuen Mischungen von Freizeit und Homeoffice, der letzte Raum ist den Kindern gewidmet, Roboter inklusive.

An der Kippe zur Zukunft

Eine unterhaltsame Achterbahnfahrt durch die Gegenwart an der Kippe zur Zukunft, die in ihren sehr plakativen Installationen fast schon zu sehr auf ein imaginiertes Allgemeinpublikum ausgerichtet ist, dem man den digitalen Alltag vielleicht gar nicht mehr so überdeutlich erklären muss, wie es hier geschieht, doch durch die Verknüpfung via "Wissensportale" auf eine eigens eingerichtete Website mit Mehrinformationen ihren Bildungsauftrag sehr gut erfüllt.

Eine rein technologische Ausstellung, betont Otto Hochreiter, wolle man auch gar nicht sein, ebenso wenig wie eine akademisch-künstlerische wie am Ars Electronica Center in Linz.

Ergänzt wird die Schau durch begleitende Events und Diskussionsformate: Am 23. Juni ist man beim Club Hybrid in Graz-Puntigam zu Gast, einem temporären Pavillon am Stadtrand, der ebenfalls im Rahmen des Kulturjahres eingerichtet wird.

Im Juli finden Diskussionen zu den acht Kapiteln statt, und am 4. August wird man Teil des Elevate Festival für Musik, Kunst und politischer Diskurs sein. Vilém Flusser wird fürsorglich lächelnd von oben zuschauen. (Maik Nowotny, 26.5.2021)