Bettina Marx leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. In ihrem Gastkommentar kritisiert sie die israelische Politik gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern. Sie spricht von einer "systematischen Diskriminierung". Lesen Sie dazu auch die Gastkommentare von Ben Segenreich, Ariel Muzicant und Ruşen Timur Aksak.

Die Waffen schweigen zwischen Israel und der Hamas, aber unter der Oberfläche brodelt es weiter. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann es zu einer erneuten Runde der offenen Gewalt kommen wird, denn die strukturelle Gewalt der israelischen Besatzung ist nicht beendet worden. Sie dauert an, und sie wird die nächste Eskalation so zwingend und unvermeidbar machen wie die letzte.

Auch wenn gerade ein Waffenstillstand hält, von Frieden ist man schon seit Jahren weit entfernt: ein palästinensischer Demonstrant und israelische Soldaten.
Foto: AFP / Abbas Momani

Seit 54 Jahren leben die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen unter Besatzung, ohne Aussicht auf eine Zukunft in freier Selbstbestimmung. Seit dem Beginn des Oslo-Prozesses vor mehr als 25 Jahren, der ihnen eigentlich einen eigenen Staat bringen sollte, sehen sie sich stattdessen mit zunehmender Enteignung und Entrechtung konfrontiert. Die Zahl der Siedler im Westjordanland hat sich in dieser Zeit verdreifacht, die Zahl der Siedlungen ist auf 280 angewachsen.

Allein seit 2010 wurden nach einem Bericht der israelischen Nichtregierungsorganisation Kerem Navot 65 neue sogenannte Außenposten angelegt. Sie zerstückeln das palästinensische Gebiet, beanspruchen weite Flächen von Acker- und Weideland und setzen die Palästinenser in der Region ständigen Belästigungen und Gewalt aus. So wurden seit 2010 durch Siedlergewalt mehr als 100.000 Olivenbäume palästinensischer Bauern entwurzelt, abgehackt oder verbrannt, Häuser und Autos werden mit Graffiti beschmiert und die Bauern mit Waffengewalt am Bewirtschaften ihrer Felder gehindert. Auch der israelische Staat setzt die einheimische Bevölkerung unter massiven Druck, indem er keine Baugenehmigungen erteilt und Häuser und Wirtschaftsgebäude abreißt, die ohne Genehmigung gebaut wurden, indem er Wasserleitungen kappt oder zerstört, Weiden für die Schafhirten unzugänglich macht und ganze Dörfer niederreißt, wie das Dorf Humsa im Jordantal, dessen Bewohner mitten im letzten Winter obdachlos gemacht wurden.

Starker Druck

Besonders stark ist der Druck auf die Palästinenser in Jerusalem. Israel beansprucht die binationale Stadt, deren Bevölkerung zu 40 Prozent palästinensisch ist, als ungeteilte Hauptstadt für sich und schließt die palästinensischen Ansprüche auf den Ostteil mit den heiligen Stätten kategorisch aus. Nach der Eroberung im Jahr 1967 hatte Israel die Grenzen Jerusalems nach Osten ausgedehnt und zahlreiche palästinensische Dörfer eingemeindet, im Jahr 1980 wurde dieser erweiterte Ostteil auch formell annektiert.

Die palästinensischen Einwohner erhielten dabei aber keine vollen Bürgerrechte. Sie sind staatenlos und werden nur als "permanente Einwohner" geduldet, ständig in der Gefahr, diesen prekären Status zu verlieren. Durch die Teilung der Stadt im Jahr 1948 hatten viele Palästinenser ihre Häuser und ihren Besitz im Westteil verloren. Nach der Wiedervereinigung 1967 bekamen sie keine Chance, diesen Besitz zurückzuerhalten oder wenigstens finanzielle Entschädigung einzufordern. Diese Möglichkeit wurde nur jüdischen Bürgern eingeräumt, die in den nun palästinensisch bewohnten Vierteln Grundbesitz zurückfordern können und in diesem Bestreben von den israelischen Gerichten unterstützt werden.

Dabei sind es meistens nicht die ursprünglichen Bewohner, sondern Siedlerorganisationen, die die Ansprüche geltend machen, wie in Sheikh Jarrah, wo eine in den USA registrierte Organisation die Enteignung der Palästinenser betreibt. Auch im Armenviertel Silwan, außerhalb der Altstadtmauern, aber in unmittelbarer Nähe der Klagemauer gelegen, haben sich bereits mehrere jüdische Familien, unterstützt von Siedlerorganisationen, in den Häusern von enteigneten Palästinensern niedergelassen. Nun sollen 87 weitere palästinensische Familien vertrieben werden, und 1500 Häuser sind zur Zerstörung vorgesehen.

Nach einer Schätzung der Europäischen Union könnte ein Drittel aller palästinensischen Häuser in Ostjerusalem wegen fehlender Baugenehmigungen zerstört werden, was die Vertreibung von 100.000 palästinensischen Einwohnern der Stadt zur Folge haben würde.

Unter Existenzminimum

Israel geht aber nicht nur mit Häuserzerstörungen und Vertreibungen gegen die palästinensische Bevölkerung in Jerusalem vor, sondern es setzt auch auf systematische Unterfinanzierung und Vernachlässigung. 75 Prozent der palästinensischen Einwohner leben unter dem Existenzminimum, mehr als 20.000 Kinder und Jugendliche gehen nicht zur Schule; es fehlen rund 2500 Klassenzimmer, Wasser- und Stromversorgung sind unregelmäßig, die Müllentsorgung und Straßenreinigung bleibt weit hinter der in den jüdischen Stadtvierteln zurück, es gibt kaum Postämter und kaum Postzustellung. Und obwohl nach einem EU-Bericht die Palästinenser Jerusalems für 36 Prozent der kommunalen Steuereinnahmen aufkommen, fließen nur zehn Prozent der städtischen Aufwendungen an sie zurück.

Diese systematische Diskriminierung und die anhaltende militärische Besatzung bereiten den Boden für weitere kriegerische Auseinandersetzungen. Nur die Schaffung eines gleichberechtigten palästinensischen Staates an der Seite Israels kann den Teufelskreis der Gewalt stoppen – oder die Gewährung gleicher Rechte an alle Bürger in einem gemeinsamen binationalen Staat zwischen Mittelmeer und Jordan. Die Geschehnisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass die bisherige Politik gescheitert ist, die Opfer sind die Zivilisten auf beiden Seiten.

Das Kernproblem des Nahen Ostens bleibt die ungelöste Palästinafrage. Darüber können auch die Abkommen Israels mit den arabischen Golfstaaten nicht hinwegtäuschen. Solange die Besatzung andauert und die Palästinenser ihre Rechte nicht erhalten, wird die Region nicht zur Ruhe kommen. (Bettina Marx, 26.5.2021)