Die Seilbahngondel stürzte am Wochenende in die Tiefe.

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Die Staatsanwältin der norditalienischen Stadt Verbania, Olimpia Bossi, hatte den Betreiber der Seilbahn und mehrere Angestellte die ganze Nacht lang verhört – und als sie am frühen Mittwochmorgen, kurz nach 4 Uhr, vor die Medien trat, zeigte sie sich "erschüttert": Den Verantwortlichen der Seilbahn sei vollkommen bewusst gewesen, dass die Gondel ohne funktionierende Bremsen unterwegs gewesen sei. Mehr noch: Sie hätten das Bremssystem absichtlich mit dem Anbringen einer Stahlklammer außer Funktion gesetzt. Diese Klammer verhindere, dass die Bremsbacken in das Tragseil greifen und die Bahn blockieren, sollte das Zugseil reißen oder eine andere Notsituation eintreten.

Die Gründe für diese – wie sich nun herausstellte – tödliche Manipulation seien wirtschaftlicher Natur gewesen, wusste Bossi zu berichten: Das Bremssystem der Gondel habe seit der Wiederinbetriebnahme der Bahn nach der monatelangen Winter- und Covid-Pause am 26. April immer wieder Probleme verursacht und den Betrieb erschwert.

Anfang Mai sei zwar ein Versuch unternommen worden, die Störung zu beheben – doch die Bremsen hätten weiterhin nicht korrekt funktioniert und die Bahn immer während der eigentlich störungsfreien Fahrt blockiert. Um die Probleme mit der Bremse vollständig zu beheben, wäre laut Bossi eine sehr viel gründlichere Reparatur erforderlich gewesen. Eine solche Intervention hätte zur aber Folge gehabt hätte, dass die Bahn für längere Zeit hätte außer Betrieb genommen werden müssen. Also entschied sich der Betreiber offenbar zu dieser Manipulation der Bremsanlage, die den fortlaufenden Betrieb sicherstellte – bis zum Unglück.

Fataler zeitlicher und wirtschaftlicher Druck

Angesichts der beginnenden Tourismussaison und der bereits eingetretenen großen finanziellen Einbußen infolge der Pandemie hätten sich die Verantwortlichen gegen die zeitraubende Reparatur entschieden. "Sie waren davon überzeugt, dass das Zugseil sicher nicht reißen würde – und so sind sie das Risiko eines Unglücks eingegangen. Beim Unfall handelte es sich nicht – oder nicht nur – um Schicksal", sagte Staatsanwältin Bossi.

Bei den drei Verhafteten handelt es sich um den Inhaber der der Seilbahngesellschaft sowie zwei seiner Angestellten: einen Ingenieur und den Betriebsleiter. Sie seien geständig, so die Staatsanwältin, die den drei Festgenommenen "mehrfache fahrlässige Tötung und fahrlässige Auslösung eines Unglücks" vorwirft.

Bossi erwägt außerdem eine Anklage wegen absichtlicher Entfernung von Einrichtungen zur Vermeidung von Arbeitsunfällen – ein Straftatbestand, auf den bis zu zehn Jahre Gefängnis stehen.

Stahlklammer schon bei Bergungsarbeiten gefunden

Der Manipulation auf die Spur gekommen waren die Ermittler schon am Unglücksort: Im Gestell der zerstörten Gondel entdeckten sie die eingesetzte rote Klammer, die die Bremsen am Zupacken hinderte. Zunächst war noch ein Versehen vermutet worden: Die Klammer wird gelegentlich bei Dienst- und Testfahrten montiert – allerdings bei leerer Kabine. Die erste Vermutung war, dass die Verantwortlichen vergessen haben könnten, die Klammer nach einer Testfahrt wieder zu entfernen.

Dass sie die Blockiervorrichtung für die Bremsen absichtlich auch für Passagierfahrten einsetzten – und das möglicherweise seit der Wiederaufnahme des Betriebs am 26. April –, das hatten sich die Ermittler vor den Geständnissen in der Nacht auf Mittwoch nicht vorstellen können.

Während das Bremsversagen nun offenbar geklärt ist, bleibt die Ursache des Zugseilrisses, also die primäre Unfallursache, noch unklar. Zumindest auf dem Papier sind die Kontrollen und Revisionen sowohl des Trag- als auch des Zugseils regelmäßig und ordnungsgemäß durchgeführt worden – zuletzt erst Anfang Mai.

Ob die Wartung der Bahn tatsächlich korrekt durchgeführt wurde und was letztlich zum Riss des Zugseils geführt hat, ist Gegenstand weiterer Ermittlungen, wie Staatsanwältin Bossi ausführte. Eine Möglichkeit wäre diese: Das Zugseil könnte aufgrund der von den defekten Bremsen verursachten Blockaden während des Betriebs hohen Belastungen ausgesetzt und beschädigt worden sein.

Überlebender Bub aus Koma erwacht

Beim Absturz der bergwärts fahrenden Gondel der Seilbahn waren am Pfingstsonntag 14 der 15 Passagiere ums Leben gekommen. Aufzeichnungen von Überwachungskameras zeigen, dass die Gondel sich nur noch wenige Meter vor der Bergstation befand, als das Zugseil mit einem lauten Knall riss. In der Folge rollte die Kabine ungebremst talwärts und verschwand aus dem Blickfeld der Kamera.

Laut Expertenberichten beschleunigte die Gondel auf 100 km/h, bis sie vom ersten Stützmast aus den Tragseilen katapultiert wurde, rund 50 Meter durch die Luft flog, anschließend an den Felsen zerschellte und sich noch mehrfach überschlug und erst durch einige Bäume gestoppt wurde.

Die Tragödie am ersten Ausflugswochenende nach der Lockerung der Covid-Schutzmaßnahmen hat in Italien Entsetzen und Trauer ausgelöst. Besondere Anteilnahme löste das Schicksal des fünfjährigen, aus einer israelischen Familie stammenden Buben Eitan aus, der den Unfall als Einziger überlebte: Er hat beim Absturz der Gondel seine beiden Eltern, seinen zweijährigen Bruder Tom und seine Urgroßeltern verloren, die wenige Tage zuvor aus Israel nach Italien gereist waren.

Er befindet sich weiterhin auf der Intensivstation einer Kinderklinik in Turin. Sein Zustand sei weiterhin kritisch, hieß es Mittwochmittag. Später teilten die Ärzte mit, dass er aus dem künstlichen Koma erwacht ist. Zuvor hieß es bereits: In dem Moment, in dem Eitan die Augen wieder öffnet, werden seine Tante Aya und seine Großeltern bei ihm sein. (Dominik Straub aus Rom, 26.5.2021)