Autor Sasha Filipenko ist kommende Woche für Lesungen in Österreich: am 31.5. im Literaturhaus Wien, am 1.6. im Literaturhaus Mattersburg und am 2.6. in der Stadtbibliothek Innsbruck.

Foto: Diogenes-Verlag

In seinem Ende März auf Deutsch erschienenen Roman Der ehemalige Sohn erzählt der belarussische Autor Sasha Filipenko (36) von einem jungen Mann, der zehn Jahre im Koma liegt – und als er aufwacht, hat sich in Belarus nichts verändert. Es geht um den Stillstand unter dem Regime des Diktators Alexander Lukaschenko. Filipenko ist auch in Leserbriefen und Interviews ein harter Kritiker des Regimes. Zu Anfang der Proteste zog er selbst durch Minsks Straßen, bis es zu gefährlich wurde. Wir haben nach den jüngsten Ereignissen mit ihm gesprochen.

STANDARD: Dass Lukaschenko vergangenen Sonntag wegen eines Bloggers an Bord ein Flugzeug per Kampfjet zur Landung gezwungen hat, bedeutet eine neue Dimension?

Filipenko: Für mich glaubt da ein wahnsinnig gewordener Diktator, etwas besonders Schlaues zu machen. Dabei ist es einfach nur irre. Der Blogger Roman Protassewitsch ist Gründer eines der größten Kanäle auf der Kommunikationsplattform Telegram von Belarus mit eineinhalb Millionen Abonnenten, auf dem jeden Tag Kritik an Lukaschenko erscheint. Er ist also ein persönlicher Feind. Andererseits funktioniert Protassewitsch wie eine Geisel. Denn Lukaschenko versucht immer, Gefangene im Austausch für Erleichterungen bei Sanktionen einzutauschen. Nun wundert Lukaschenko sich, warum das nicht mehr klappt, und versucht sich neue "Waren" für den "Handel" anzuschaffen. Je effektvoller ihre Festnahmen, desto teurer kann er sie "verkaufen", mag er sich denken.

STANDARD: Die EU reagiert mit Luftraum- und Vermögenssperren, Reiseverboten. Reicht das?

Filipenko: Nein. Vor allem stelle ich mir die Frage, warum diese Sanktionen erst kommen, nachdem 40.000 Leute durch Foltergefängnisse gegangen sind. Diese Sanktionen sind einfach lächerlich. Dass jetzt irgendwelche Leute nicht nach London fliegen dürfen, obwohl sie da sowieso nicht hinfliegen würden. Ich befürchte, dass es mit der Luftraumsperre aber getan sein wird – dass Europa glaubt, es habe genug gemacht, und sich wieder zurückzieht. Gleichzeitig bleiben Handelsbeziehungen aufrecht und werden immer noch Kredite vergeben. Wo es wirkungsvoll wäre, greift man nicht ein. Ich glaube, diese Pseudoaktionen Europas sind mehr dazu da, sich zu beruhigen, dass man eh etwas macht.

STANDARD: Seit einem Jahr überschlagen sich die Ereignisse in Belarus. Hätten Sie damit gerechnet?

Filipenko: Ich habe es gehofft, aber in einem Land, in dem sich nie etwas ändert, kann man so etwas natürlich nicht erwarten. Belarus hat dank technischer Möglichkeiten wie Telegram nun einen Point of no Return erreicht. Wir dachten aber nie, dass wir in der Situation landen würden, in der wir nun sind. Wir dachten, im September haben wir einen neuen Präsidenten.

STANDARD: Sie wurden 1984 in Minsk geboren, leben seit 2003 in St. Petersburg. Mittlerweile trauen Sie sich nicht mehr, zu Protesten nach Minsk zu reisen. Wurden Sie konkret bedroht?

Filipenko: Was kann man eine konkrete Drohung nennen? Wenn der belarussische KGB meinem Vater sagt, dass sie mich fünf Jahre einsperren? Wenn die größte Propagandazeitung von Belarus zum fünften Mal auf der Titelseite schreibt, dass man mich strafrechtlich verfolgen müsste: Ist das eine Drohung seitens des Staates? Ich weiß nicht. Aber für mich ist ganz klar, dass sie mich verhaften würden.

STANDARD: Die Situation für Künstler in Belarus war immer schon schwierig, aber im Untergrund pulsierte die Szene bisher. Wie ist das nun?

Filipenko: Die wichtigsten Schriftsteller von Belarus leben derzeit im Ausland. Auch Regisseure sind nach Kiew oder Polen gegangen. Man kann keine Lesungen abhalten, ein Theaterstück von mir wurde verboten mit der Drohung, jeden zu verhaften, der hingeht. Auch die Proben wurden verboten. Es wurde in Kiew aufgenommen und online gesendet. Repressionen treffen aber das ganze Volk. Ich habe einen Chat mit sieben Freunden, von denen sechs das Land verlassen haben. Belarus wird von Terroristen beherrscht. Wir sind nicht die Opposition. Opposition klingt, als wären wir ein abgrenzbarer Teil des Volkes.

STANDARD: Wie lange wird Lukaschenko sich noch halten? Wie stellen Sie sich die Zukunft vor?

Filipenko: Vielleicht ein Jahr oder zwei? Wenn Putin ihn nicht mehr unterstützt, ist er am selben Tag weg. Ich glaube, die Belarussen wollen in erster Linie für sich sein. Wir wissen es aber auch nicht, weil wir nie Parteien hatten, die so etwas für uns herausfinden konnten. (Michael Wurmitzer, 27.5.2021)